Virtuelle Realität Baustellen sicherer machen

Jedes Jahr sterben weltweit 60.000 Arbeiter auf Baustellen. Diese Zahl könnte sinken, wenn sich eine neue Idee von Bochumer Ingenieuren bewährt.

Mitten auf einer Baustelle stehe ich; neben mir ragt ein teilweise fertiggestelltes Gebäude in den Himmel. Ich gehe ein paar Schritte auf einen Berg mit Recyclingmaterial zu und hebe mühelos einen der prall gefüllten Säcke auf. Dann drehe ich mich um, um ihn zu einem Container zu bringen. Ein großer Radbagger taucht hinter dem Gebäude auf, nähert sich schnell von rechts, als hätte der Fahrer mich nicht gesehen. Es gibt keine Chance mehr zu reagieren.

Das macht aber nichts, denn alles ist nur in einer Virtual-Reality-Umgebung passiert. Dem Rubin-Team haben die RUB-Forscher Thomas Hilfert, Prof. Dr. Markus König und Dr. Jochen Teizer einen Einblick in ihr laufendes Projekt gewährt, das langfristig für mehr Sicherheit auf Baustellen sorgen soll. Durch interaktive Schulungen mittels virtueller Realität wollen sie Gefahren für Arbeiter erlebbar machen und sie so dafür sensibilisieren. Dazu erschaffen sie derzeit virtuelle Baustellenwelten im Computer.

Unfälle mit Todesfolgen

„Es gibt jedes Jahr viele Unfälle auf deutschen Baustellen, nicht selten töten Baumaschinen Arbeiter oder verursachen zumindest schwere Verletzungen“, weiß Markus König, Leiter des Lehrstuhls für Informatik im Bauwesen.

Die Sicherheitsstandards in der Bundesrepublik sind längst nicht so hoch wie etwa in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten.


Markus König

Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin wurden 2014 mehr als 100.000 Arbeitsunfälle im Baugewerbe gemeldet. Das machte gute zehn Prozent der Gesamtzahl über alle Branchen hinweg aus. 78 Unfälle gingen tödlich aus. „Die Sicherheitsstandards in der Bundesrepublik sind längst nicht so hoch wie etwa in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten“, erzählt König.

Die Hoffnung des RUB-Teams ist, Arbeitsschutzplanern ein nützliches Werkzeug für die Unfallprävention bereitstellen zu können. Seit sechs Jahren erforscht das Team vom Lehrstuhl Informatik im Bauwesen bereits mögliche Anwendungen der Virtual-Reality-Technik. Auch die Baustellensicherheit ist seit einer Weile fester Forschungsbestandteil.

Markus Königs Team forscht seit sechs Jahren an Anwendungen der Virtual-Reality-Technik.
© Roberto Schirdewahn

In Vorstudien auf realen Baustellen hat die Gruppe zunächst Gefahrenquellen identifiziert. „Die Lage, insbesondere auf Großbaustellen, ist oft etwas unübersichtlich. Gefährlich wird es immer da, wo Laufwege von Menschen sich mit Fahrtwegen von Baumaschinen kreuzen“, sagt Markus König.

Mit einer Virtual-Reality-Schulung sollen Anwenderinnen und Anwender die besonders riskanten Stellen und Situationen kennenlernen. Und zwar auf genau der Baustelle, auf der sie später arbeiten oder für die sie als Arbeitsschutzplaner verantwortlich sind.

Erst virtuell, dann real bauen

Die Bochumer Forscher nutzen den Umstand, dass jede große Baustelle heutzutage zunächst virtuell geplant wird, bevor sie real entsteht. Diese dreidimensionalen Modelle können sie als Grundlage für ihre Repräsentation in der virtuellen Realität verwenden.

Damit die computergenerierte Baustelle einigermaßen naturgetreu aussieht, müssen sie Oberflächentexturen, Schatten und Umgebungsinformationen wie Häuser, Straßen und Bäume hinzufügen. Auch die fahrenden Baumaschinen dürfen natürlich nicht fehlen. Durch Geräusche können die Ingenieure das virtuelle Szenario noch realistischer erscheinen lassen.

Als Absolvent der angewandten Informatik bringt Thomas Hilfert das Know-how mit, das man braucht, um virtuelle Welten zu erschaffen.
© Roberto Schirdewahn

Als Absolvent der angewandten Informatik hat Thomas Hilfert das Know-how, das man braucht, um virtuelle Welten zu erschaffen.

In seiner Doktorarbeit beschäftigt sich Thomas Hilfert mit der Programmierung genau dieser Dinge. Als Absolvent eines Studiums in angewandter Informatik bringt er die optimalen Grundlagenkenntnisse dafür mit. Er hat bereits Modelle von Baustellen mit verschiedenen Layouts entwickelt, in denen sich virtuelle Besucher bei Regen, Nebel oder Sonnenschein bewegen können.

Wie bei Computerspielen

Dafür verwendet er die gleiche Technik, die auch bei Computerspielen zum Einsatz kommt. Testpersonen sehen die virtuelle Realität durch eine spezielle Brille. Obwohl sie durch einen leeren Raum laufen, haben sie den Eindruck, sich auf einer echten Baustelle zu bewegen. Mit einem Kontrollgerät in der Hand ähnlich einer Fernbedienung können sie mit Gegenständen interagieren, zum Beispiel Säcke aufheben und an andere Orte tragen.

Dass eine Virtual-Reality-Umgebung realistisch aussieht, ist eine Herausforderung, wenn man kein Riesenbudget hat.


Markus König

„Es gibt bereits viel Software, aus der man bestimmte Elemente in die selbst erschaffene virtuelle Umgebung laden kann“, erklärt Markus König. „Dass es möglichst realistisch aussieht, ist aber eine Herausforderung, wenn man kein Riesenbudget hat.“ Eine Computerspielwelt aufzubauen verschlingt leicht dutzende Millionen. Solche Summen einzusetzen, ist für Wissenschaftler und in der Baupraxis utopisch.

Thomas Hilfert arbeitet derzeit daran, die von ihm entwickelten Prozesse weitgehend zu automatisieren. Das Ziel: Sein Programm soll aus dem dreidimensionalen Modell einer Baustelle automatisch eine Virtual-Reality-Repräsentation erzeugen, in die man Baumaschinen mit typischen Bewegungsabläufen hinzufügen kann. Nach dem Baukastenprinzip könnte man sich so eine virtuelle Baustellenumgebung nach individuellen Wünschen zusammenstellen.

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Als Zielgruppe für ihre Idee sehen die Bochumer Ingenieure in erster Linie Planerinnen und Planer, die für den Arbeitsschutz auf Baustellen verantwortlich sind. Üblicherweise steht ihnen nur gedrucktes Schulungsmaterial zur Verfügung, gelegentlich ein Film. „Das ist wie Fernsehen, der bleibende Lernerfolg ist eher gering“, sagt Jochen Teizer, ein international anerkannter Sicherheitsexperte für die Bauindustrie. Er unterstützt Thomas Hilfert in seiner Forschungsarbeit.

Häufig ist die Ursache eines Unfalls nicht das Fehlverhalten des einzelnen Arbeiters.


Jochen Teizer

Mit der RUB-Technik könnten sich die Betroffenen auf der virtuellen Baustelle mit den Arbeitsbedingungen vertraut machen. In Zukunft, so schätzen die Forscher, könnten durchaus auch alle Bauarbeiter virtuell geschult werden, jeweils nach den individuellen Bedürfnissen oder Arbeiten, die auf der Baustelle zu erledigen sind. Planer könnten Gefahrenquellen vorab lokalisieren und eliminieren. An brisanten Stellen könnten sie zum Beispiel zusätzliche Absperrungen einplanen, um Laufwege vorzugeben.

„Häufig ist die Ursache eines Unfalls nicht das Fehlverhalten des einzelnen Arbeiters“, sagt Teizer, „sondern eine fehlende Sicherheitskultur im Unternehmen oder mangelnde Vorgaben für sichere Arbeitsbedingungen.“

Unbegrenzt viele Leben

Wie sinnvoll die virtuelle Baustelle ist, wollen Hilfert, König und Teizer im Lauf des Projekts evaluieren. Sie haben bereits zusätzliche Technik bestellt: einen Eyetracker, der sich in die Virtual-Reality-Brille integrieren lässt und Augenbewegungen verfolgen kann. Damit können sie auswerten, wohin Menschen ihre Aufmerksamkeit richten, während sie sich in der Computerwelt bewegen – bei unterschiedlichen Umweltbedingungen oder wenn verschiedene Sicherheits- und Warnsysteme aktiv sind.

„Da man in der virtuellen Realität unbegrenzt viele Leben hat, können wir dort genauestens beobachten, wie die Testpersonen vor und nach tödlichen Unfällen reagieren und wann Lerneffekte einsetzen“, so Thomas Hilfert.

In der virtuellen Welt hat man unbegrenzt viele Leben. Ein Umstand, den die RUB-Forscher nutzen wollen.
© Roberto Schirdewahn

Alarmstufe Rot: Thomas Hilfert ist in der virtuellen Welt mit einem Bagger zusammengestoßen.

Zwei US-amerikanische Baufirmen haben bereits Interesse an der Technik bekundet, die die Bochumer Ingenieure entwickeln. Nicht verwunderlich, da Unfallopfer in den Vereinigten Staaten teils horrende Schadenersatzsummen einklagen können. „Kürzlich ging es in einem Fall um 56 Millionen US-Dollar“, berichtet Teizer. „Auch im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile großes Interesse an solchen Lösungen“, ergänzt er. Denn die Verantwortlichen haben erkannt, dass gute Arbeitssicherheit die Baustellen produktiver macht und sich somit rentiert.

Interaktive Warnwesten

Die RUB-Ingenieure klügeln auch schon Ideen für weitere Projekte zur Baustellensicherheit aus. Sie wollen spezielle Warnwesten erproben, die aufleuchten und einen Alarmton aussenden, wenn sich dem Träger oder der Trägerin ein Baustellenfahrzeug nähert. Auf Basis von Funktechnologie hat Jochen Teizer bereits erste erfolgversprechende Versuche unternommen.

Jochen Teizer hat bereits erste Versuche mit den interaktiven Warnwesten unternommen.
© RUB, Jochen Teizer

Ein solches System könnte dann für noch mehr Sicherheit sorgen, wenn die aus der virtuellen Schulung abgeleiteten Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichend waren.

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Unveröffentlicht

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 2. November 2016 in Rubin 2/2016 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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