Ruhrdeutsch Bei uns is dat ne Mantaplatte! Oder?

Was Ruhrdeutsch ist und was nicht, ist selbst für Sprecher des Dialekts oft nicht leicht zu sagen. Die Darstellung in den Medien trägt dazu ihren Teil bei.

„Dat Wechselgeld kannse behalten.“ Wer das hört, weiß, er ist im Ruhrpott. „Dat“ und „kannse“ – klassischer kann Ruhrdeutsch schließlich gar nicht klingen. Oder? Dr. Kerstin Kucharczik räumt mit einem Vorurteil auf: „Die t-Endung bei dat und wat und die Kontraktionen wie hasse, kannse, willse sind eigentlich gar nicht isoliert typisch für das Ruhrdeutsche. Man kann sie auch in anderen Regionen finden“, erklärt die Wissenschaftlerin vom Germanistischen Institut der RUB. Stattdessen gebe es viele Besonderheiten im Ruhrdialekt, die den Menschen nicht bewusst seien.

Kucharczik leitet seit 2006 das Projekt „Korpus der gesprochenen Sprache des Ruhrgebiets“. Obwohl das Forschungsvorhaben derzeit keine Finanzierung hat, untersuchen sie und ihre Kollegen mit Leidenschaft die typischen Merkmale des Ruhrdeutschen – aus Freude an dem Thema und weil sie bei den Menschen ein Bewusstsein dafür schaffen wollen, was das Besondere an ihrer Umgangssprache ist.

Vielen Menschen im Ruhrgebiet ist nicht bewusst, dass einige Besonderheiten ihres Dialekts aus dem Plattdeutschen kommen. Diese Karte vom Ruhrgebiet dokumentiert die Einflüsse des Plattdeutschen.
© Roberto Schirdewahn

Vielen Menschen im Ruhrgebiet ist nicht bewusst, dass einige Besonderheiten ihres Dialekts aus dem Plattdeutschen kommen. Diese Karte der Region dokumentiert die Einflüsse des Plattdeutschen. Heinz Menge, Kerstin Kucharczik und Steffen Hessler (von links) beschäftigen sich mit Leidenschaft mit den Besonderheiten der Ruhrgebietssprache.

Heinz Menge, pensionierter Professor des Germanistischen Instituts und heute noch eng mit diesem verbunden, weiß aus Erfahrung, was es heißt, sich nicht über die eigenen Sprachbesonderheiten im Klaren zu sein. „Meine Schweizer Kommilitonen fragten mich früher gern, ob ich das Wort Gelsenkirchen für sie sagen könnte“, erzählt er. „Wenn ich das tat, lagen sie unter dem Tisch vor Lachen.“

Menge dachte, das läge an seiner Unfähigkeit, ein gerolltes R auszusprechen. „Ich habe erst Jahre später gemerkt, dass meine Kommilitonen nicht über die Aussprache des R gelacht hatten“, berichtet der Linguist, „sondern über die Art, wie ich den Vokal davor in die Länge gezogen habe: Gelsenkiirchen.“ Eine typische Eigenart im Sprachgebrauch des östlichen Ruhrgebiets.

Wir wollen etwas für das Prestige der Sprache tun.


Heinz Menge

Dem Bochumer Team geht es mitnichten darum, die Ruhrgebietsbewohner auf Unzulänglichkeiten in ihrem Dialekt hinzuweisen. Im Gegenteil. „Wir wollen etwas für das Prestige der Sprache tun“, erklärt Menge. „Das Ruhrdeutsche ist früher derart diskriminiert worden – als Polnisch-Platt oder kaputtes Deutsch –, dass sich viele ihrer Sprache geschämt haben.“

Dafür sehen die Forscher keinen Grund. Vielmehr sei es wichtig, sich über die Eigenheiten des Dialekts im Klaren zu sein, sodass man ihn bei Bedarf abstellen könne. „Es gibt Situationen, in denen es nicht angemessen ist, Dialekt zu sprechen, etwa im Deutschunterricht in der Schule“, sagt Kerstin Kucharczik. „Auf dem Schulhof ist das aber doch nicht schlimm.“

Forscher im Schrebergarten

Aber was ist Ruhrdeutsch? Und wie verändert es sich? Das dokumentieren die Bochumer Germanisten mit dem Korpus der gesprochenen Sprache des Ruhrgebiets. In den 1980er-Jahren zeichneten RUB-Forscher Unterhaltungen mit Kleingärtnern im Ruhrgebiet auf, die das Team um Kerstin Kucharczik später in mühsamer Arbeit transkribierte. Daraus entstand ein umfassendes Korpus, das all die typischen Merkmale des Ruhrdeutschen enthält. Um diese in Schriftform darstellen zu können, mussten die Linguisten sich teils neue Zeichen ausdenken. Denn die geläufigen Transkriptionsverfahren orientierten sich am Hochdeutschen und konnten sprachliche Phänomene wie „scho’ma’“, ruhrdeutsch für „schon mal“, nicht abbilden.

Nicht nur Schriftstücke, auch Tonaufzeichnungen sind für die Linguisten wertvolles Sprachmaterial.
© Roberto Schirdewahn

Mit den gleichen Methoden erstellte das Team vom Germanistischen Institut 2012 ein Vergleichskorpus. Dabei half ihnen das Projekt „Linguistische Datenanalyse am Beispiel des Ruhrdeutschen“, das das Rektorat als Initiative für forschendes Lernen förderte. „Wir freuen uns, dass die Forschung zum Ruhrdeutschen durch das Projekt stärker an der Uni verankert wurde“, sagt Steffen Hessler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut. „Die Studierenden nehmen das Angebot sehr gut an.“ Sie trugen rund 40 Stunden Tonmaterial verschiedener Sprecherinnen und Sprecher aus dem Ruhrgebiet zusammen und lernten anhand der Aufzeichnungen, diese zu transkribieren und zu analysieren. Alt- und Neukorpus verwaltet heute die Universitätsbibliothek der RUB.

Mehr am Kochen

Hessler hat bereits erste Vergleiche zwischen den Korpora angestellt. „Auffällig ist, dass der am-Progressiv – so etwas wie ‚Ich bin am Kochen‘ – im Ruhrdeutschen häufiger geworden ist“, sagt er. In erster Linie interessiert ihn aber eine andere Forschungsfrage. Nämlich wie das Ruhrdeutsche in Medien dargestellt wird, und wie diese Darstellung auf den Dialekt zurückwirkt. In diesem Kontext unterscheidet Steffen Hessler zwischen dem Regiolekt, also der tatsächlich gesprochenen Sprache im Ruhrgebiet, und dem Mediolekt, also der in den Medien überspitzt dargestellten Sprache.

Für seine Analyse sammelte Hessler unterschiedliche Medien mit ruhrdeutschen Inhalten: Filme, Comedy- und Kabarett-Sendungen, Romane und Youtube-Videos. Selbst Ansichtskarten aus dem Pott mit Dialektsprüchen bezog er ein. „Mir war wichtig, dass die analysierten Medien eine große Reichweite haben“, erklärt der Linguist. „Viele Menschen sind fast täglich an Bahnhöfen, und dort sind die Dialektkarten unheimlich präsent.“

Gesprächen in Bus und Bahn lauschen

Das medial dargestellte Ruhrdeutsch verglich Steffen Hessler mit dem Neukorpus und mit Hörbelegen. „Ich habe mich an öffentlichen Plätzen aufgehalten, zum Beispiel in Bus und Bahn oder auf Weihnachtsmärkten, den Gesprächen gelauscht und interessante Hörbelege notiert“, beschreibt er das Vorgehen. Der Wissenschaftler achtete vor allem auf besondere grammatikalische Strukturen, etwa die beliebten Possessivkonstruktionen wie „dem Karl seine Frisur“.

Dabei braucht es ein feines Gehör. „Gerade diese Possessivkonstruktionen – ,Kind, dann fahr doch mit de Mama ihr Auto‘ – nutzen die Leute häufig als Sprachspiel und nicht, weil sie wirklich so reden würden“, weiß Hessler. „Medial wird das oft umgedeutet und so dargestellt, als ob die Leute es nicht besser wüssten. Solche Konstruktionen tauchen in einigen Medien stark gehäuft auf.“ In der Tat sei es im Einzelfall häufig schwer zu entscheiden, ob der Sprecher einen Scherz mache oder wirklich so spreche.

Am Ende hatte Steffen Hessler Daten aus verschiedenen Medien und aus dem Neukorpus sowie selbst notierte Hörbelege zur Verfügung. Auszüge daraus analysierte er im Detail, indem er die Sprache in bestimmte Kategorien einteilte. Eine Kategorie waren beispielsweise Initialformen mit „am“ wie in „Et fängt am regnen“; eine andere war der Dativ bei richtungsweisenden Präpositionen wie in „Geh du ma am Telefon“. Für jede Kategorie notierte Hessler charakteristische Beispiele. So kamen über 1.500 Seiten Analyse zusammen.

Grau und zugequalmt, so wird der Ruhrpott häufig dargestellt. Auch in Bezug auf die Sprache der Region gibt es viele Vorurteile.
© Roberto Schirdewahn

Der Wissenschaftler arbeitete heraus, welche Merkmale in den Medien gehäuft und stilisiert auftauchen. Sein Fazit: Im Mediolekt werden einige Einzelelemente aus dem Ruhrdeutschen häufiger als üblich verwendet, fast in jedem Satz und dann noch überspitzt. Dabei fokussiert die mediale Darstellung auch Merkmale, die eigentlich nicht typisch für das Ruhrdeutsche sind. Hingegen werden repräsentative Eigenheiten oft gar nicht genutzt.

„Das beste Beispiel ist die Längung des Vokals wie bei Gelsenkiirchen“, veranschaulicht Hessler. In den Medien, etwa Comedy-Sendungen, höre er das nie. „Die meisten, die Ruhrdeutsch-Comedy machen, kommen zwar aus dem Ruhrgebiet. Aber es ist ihnen oft gar nicht bewusst, dass diese Längung tatsächlich ein Merkmal ist, anhand dessen andere merken, dass jemand regiolektal spricht“, sagt der Forscher.

Diese Pommesbuden-Mentalität wird dem Ruhrgebiet gern zugeschrieben.


Steffen Hessler

Auf der anderen Seite verbinden die Medien mit dem Ruhrgebiet gern eine grammatikalische Konstruktion, die gar nicht typisch für die Region ist. Nämlich zusammengesetzte Substantive, die etwas völlig anderes bezeichnen, als die beiden Komponenten vermuten lassen. Ein berühmtes Beispiel ist der Mantateller oder die Mantaplatte, eine Umschreibung für das Gericht Currywurst mit Pommes frites.

„Diese Zusammensetzungen mit einem Touch von Unterklassigkeit und diese Pommesbuden-Mentalität werden dem Ruhrgebiet gern zugeschrieben und von den Medien immer wieder durchgewalzt“, beschreibt Steffen Hessler. „Auch Ruhrdeutschsprecher sehen das als typische Begriffe ihres Dialekts an, obwohl solche sprachlichen Konstruktionen in allen Regionen vorkommen. Da überdeckt der Mediolekt den Regiolekt.“

Typische Merkmale nicht erkannt

Diese Erkenntnis zog Steffen Hessler unter anderem aus Umfragen, die er mit Studierenden und Abiturientinnen und Abiturienten durchführte. Zusammengesetze Substantive wie Mantaplatte oder Deutschlandteller identifizierten die Befragten als typisch Ruhrdeutsch, ebenso wie „wat“ und „dat“ und Kontraktionen wie „kannse“ und „hasse“ – obwohl das nicht die repräsentativen Merkmale des Dialekts sind. Viel typischer ist etwa der Gebrauch der aus dem Niederdeutschen stammenden Verkleinerungsform auf die Endung -ken. So sagt man im Ruhrgebiet etwa Bömsken für Bonbons oder Bütterken für Butterbrot. Den Sprechern ist allerdings nicht bewusst, dass sie prinzipiell jedes Substantiv auf diese Weise verniedlichen könnten. Sie nehmen die Wörter als eigene Begriffe wahr. Dennoch fiel nur wenigen Befragten in Hesslers Studie dieses Ruhrdeutsch-Merkmal ein.

In Ruhrdeutsch-Wörterbüchern werden häufig Begriffe aufgelistet, die eigentlich gar nicht typisch für den Dialekt sind.
© Roberto Schirdewahn

Bei vielen Ruhrgebietsbewohnern scheint der Mediolekt bekannter zu sein als der Regiolekt. „Natürlich ist der Mediolekt Teil des Ruhrdeutschen, aber er ist nicht das, was auf der Straße gesprochen wird“, fasst Steffen Hessler zusammen. „Das ist auch nicht schlimm. Mir ist nur wichtig, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass das etwas anderes ist als der tatsächliche Regiolekt.“

Verändert Migration den Dialekt?

Das Team vom Germanistischen Institut der RUB verfolgt gespannt, wie sich der Ruhrdialekt im Lauf der Zeit wandelt. Ungewiss ist, ob Zuwanderer das Ruhrdeutsche in Zukunft verändern werden. Das ist nicht notwendigerweise zu erwarten, wenn man auf die Geschichte schaut. Viele glauben, polnische Einwanderer hätten den Ruhrdialekt einst geprägt. Aber das stimmt nicht. Das Ruhrdeutsche leitet sich vom Plattdeutschen ab; viele Begriffe kommen außerdem aus dem Jiddischen. Das Polnisch der Einwanderer hatte aber kaum einen Einfluss. So wird der heute typische Ruhrdialekt wohl auch in Zukunft zu hören sein.

Sprachlandschaft Ruhrgebiet

Die beiden RUB-Alumni Heinz Menge und Ullrich Spiegelberg haben das Projekt „Sprachlandschaft Ruhrgebiet“ ins Leben gerufen, unterstützt von der Stadtverwaltung Gelsenkirchen. Ihr Ziel ist es, mit einer Forschungsbibliothek das Wissen um die Umgangssprache zu dokumentieren und zu verbreiten. Sie sammeln sämtliche Bücher und Aufsätze über das Ruhrdeutsche. Unter anderem auch Menges 2013 herausgegebenes Buch „Der Ruhrdialekt“ ist hier zu finden. Das Material und ihre Expertise stellen Menge und Spiegelberg Studierenden und Schülern zur Verfügung, die beispielsweise eine Arbeit über das Ruhrdeutsche schreiben wollen.

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Unveröffentlicht

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2017 in Rubin 1/2017 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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