Medizin Hörstörungen bei Kindern früh erkennen

Rund 7,5 Millionen Kinder leiden unter Hörstörungen. Der Erfolg ihrer Behandlung hängt von einer frühen Diagnose ab. Prof. Dr. Katrin Neumann setzt sich daher für weltweite Hörscreenings von Neugeborenen ein.

Wer die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie des St. Elisabeth-Hospitals in Bochum betritt, den empfängt eine Mischung aus reger Betriebsamkeit und familiärer Gemütlichkeit. Im Wartezimmer spielen Kinder, Mitarbeiterinnen und Studierende laufen die Flure entlang und besprechen sich.

Untergebracht ist die von Prof. Dr. Katrin Neumann geleitete Abteilung in einem etwas in die Jahre gekommenen Backsteinbau gegenüber dem Haupthaus. Sie ist Ziel von Familien, deren Kinder Hör- und/oder Sprachstörungen haben. Auch Störungen des Redeflusses oder der Stimme werden hier diagnostiziert und behandelt. Dafür arbeiten Fachleute verschiedener Disziplinen zusammen: Neben Ärzten und Ärztinnen umfasst das Team auch Logopädinnen, Audiologinnen, Psychologinnen und Sozialpädagoginnen.

Katrin Neumann hat es sich zur Aufgabe gemacht, Hörstörungen im Kindesalter zu entdecken und zu therapieren. © Damian Gorczany

Stimme, Sprache, Gehör – das sind die Themen, die Katrin Neumann schon immer faszinierten. „Ich konnte mich lange Zeit nicht entscheiden, ob ich Musik oder Medizin studieren soll“, erzählt die Medizinerin. „Gesang und Cello sind meine Leidenschaft.“ Später, als sie schon HNO-Ärztin war, habe sie von der Möglichkeit gehört, sich zur Phoniaterin und Pädaudiologin ausbilden zu lassen. Neumann: „Das war für mich eine wunderbare Möglichkeit, beide Interessen zu verbinden.“

Hörstörungen weltweit zu wenig beachtet

Voller Engagement setzt sie sich neben ihrer klinischen Tätigkeit dafür ein, dass Kindern mit Hörstörungen weltweit geholfen wird. Deren Schicksal findet ihrer Meinung nach noch immer zu wenig Beachtung. „Welche Krankheiten international Aufmerksamkeit erregen, wird stark von der Weltgesundheitsorganisation WHO bestimmt“, erklärt die Ärztin.

Wir Fachleute sprechen von der verborgenen Krankheit.


Katrin Neumann

Seit Jahren stünden dort jedoch hauptsächlich Themen wie Malaria, Tuberkulose und Aids auf der Rangliste ganz oben. Hörstörungen fielen dagegen ab. „Und das, obwohl die Zahl der Betroffenen so groß und ihre Zukunft ohne eine Behandlung so schlecht ist. Wir Fachleute sprechen daher auch von der hidden disease, der verborgenen Krankheit“, sagt Neumann.

7,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren leiden weltweit unter gravierenden Beeinträchtigungen des Hörsinns. Nur zehn Prozent von ihnen erhalten die nötige medizinische Versorgung. Während in Deutschland jährlich etwa zwei von 1.000 Neugeborenen mit einer Hörstörung zur Welt kommen, liegt die Zahl in anderen Ländern oft viel höher.

Genetische Ursachen sind häufig

Die Hälfte der Erkrankungen hat genetische Ursachen, und gerade in islamischen Ländern, wo die Blutsverwandtenehe nichts Ungewöhnliches ist, beträgt die Rate bis zu 15 von 1.000 Kindern.

Anders als zum Beispiel Sehbehinderte, deren Einschränkung deutlicher auffällt und die in manchen Kulturen sogar als Weise verehrt werden, grenzt man Hörbehinderte oft aus der Gesellschaft aus. Weil sie keine Lobby haben und sich verbal schlecht wehren können, werden sie häufiger Opfer von Gewalt und Missbrauch als andere Menschen.

Nicht sehen können, trennt den Menschen von den Dingen. Nicht hören können, trennt ihn von den Menschen.


Immanuel Kant

In weiten Teilen Schwarzafrikas gelten Hörgestörte als vom bösen Geist besessen. Ein Zitat von Immanuel Kant bringt die Misere der Hörgeschädigten auf den Punkt: „Nicht sehen können, trennt den Menschen von den Dingen. Nicht hören können, trennt ihn von den Menschen.“

Katrin Neumann möchte das ändern. Ihre Passion ist das Hörscreening von Neugeborenen. Erst seit 2009 gehört diese Untersuchung in Deutschland zur Routine für Neugeborene. Neumann, die unter anderem das Technology Committee der Coalition for Global Hearing Health leitet, war damals maßgeblich an der Einführung beteiligt. „Es ist einfach unglaublich wichtig, dass Hörstörungen möglichst früh erkannt werden“, so die Medizinerin.

Frühe Behandlung entscheidend

Das Innenohr bildet sich zwar schon während der Schwangerschaft aus. Doch der Hörnerv und die Leitungsbahnen im Gehirn reifen in bestimmten Perioden – die wichtigsten haben ihren Gipfel in den ersten 40 Lebenswochen – und dafür brauchen sie Schallreize von außen.

Neumann erklärt: „Entdecken wir eine Hörstörung in dieser sensiblen Phase nicht, können wir die Kinder später so gut versorgen, wie wir wollen, das Ergebnis wird meist nur noch defizitär bleiben.“ Das Prekäre: Die schulische und berufliche Entwicklung der hörgeschädigten Kinder korreliert stark mit dem Zeitpunkt ihrer Erstversorgung, das konnte die Medizinerin auch für Deutschland nachweisen.

Wie man Hörstörungen behandelt
  • Hörgeräte: Schon ab den ersten Lebensmonaten können Kinder Hörgeräte tragen. Um sie richtig einzustellen, messen Mediziner zunächst die tatsächlichen Hörschwellen der kleinen Patienten.
  • Cochlea-Implantate: Gehörlosen oder nahezu tauben Kindern können Cochlea-Implantate helfen. Diese elektronischen Innenohrprothesen empfehlen Ärztinnen und Ärzte ab einem Alter von etwa sechs Monaten.
  • OP: Bei einigen Kindern sind auch hörverbessernde Ohroperationen hilfreich. Bei manchen angeborenen komplexen Krankheitsbildern wie beispielsweise Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder dem Down-Syndrom bilden sich häufig hartnäckige Paukenergüsse. Dabei handelt es sich um Flüssigkeit im Mittelohr. Hier kann der Einsatz eines sogenannten Paukenröhrchens helfen. Es sorgt für eine Belüftung des Mittelohrs.
  • Knochenleitungshörgeräte: Mitunter liegen fehlgebildete oder gänzlich fehlende Ohrmuscheln, Gehörgänge und/oder Mittelohren vor. Die betroffenen Kinder können mit Knochenleitungshörgeräten versorgt werden. Sie versetzen die Schädelknochen in Vibrationen und übertragen so den Schall auf das Innenohr. Sie können entweder außen am Kopf getragen werden, durch die Haut direkt mit dem Knochen verbunden oder unter die Haut implantiert werden. Bei Mittelohrfehlbildungen können auch Mittelohrimplantate zum Einsatz kommen.

Zwei Tests für die Diagnose

Zur Diagnose stehen in Deutschland und anderen entwickelten Ländern zwei Tests zur Verfügung: Für TEOAE (transitorisch evozierte otoakustische Emissionen) wird dem Säugling ein kurzer akustischer Reiz ins Ohr gegeben. Das gesunde Innenohr erzeugt als Antwort darauf selbst einen Schall, den hochempfindliche Mikrofone auffangen können. Wie auch die zweite Methode, die Screening-Hirnstamm-Audiometrie, bei der die gleiche Reaktion des Ohres, Hörnervs und Hirnstamms mittels Oberflächenelektroden gemessen wird, ist die Untersuchung für die Kinder schmerzlos und nach wenigen Sekunden vorbei.

Hörstörungen früh zu erkennen ist für eine erfolgreiche Behandlung entscheidend. © Damian Gorczany

Um das Screening allen Kindern auf der Welt zugänglich zu machen, ist Katrin Neumann sehr umtriebig. Mehrmals im Jahr reist sie, meist in ihrer Freizeit, in Entwicklungsländer, um Nachwuchsmediziner in Pädaudiologie weiterzubilden. Seit 2007 arbeitet sie außerdem als Sachverständige in verschiedenen Projekten der WHO mit. Diese hatte schon 1995 ihre Mitgliedsländer aufgefordert, nationale Pläne vorzulegen, um Hörstörungen bei Kindern aufzufinden, vorzubeugen und zu behandeln.


Umfrage: Hörscreenings weltweit

Zusammen mit ihren internationalen Kollegen hat Katrin Neumann daraufhin eine Studie konzipiert, mit der sie den Stand der Entwicklung in den einzelnen Ländern abfragt. Aus 151 Ländern liegen inzwischen Daten vor; das repräsentiert mehr als 92 Prozent der Weltbevölkerung. Mit den Fragebögen werden Informationen abgerufen wie: Gibt es in Ihrem Land Hörscreenings? Welche Methode wird dabei verwendet? Wer führt das Screening durch?

Die Studie von Katrin Neumann liefert schon jetzt Informationen über 92 Prozent der Weltbevölkerung. Vor allem aus Afrika fehlen noch Angaben zum Neugeborenen-Hörscreening. © Agentur der RUB, Zalewski

Die bisherigen Ergebnisse: Mehr als die Hälfte der Teilnehmerländer hat inzwischen Hörtests für Säuglinge eingeführt, auch wenn die verwendete Technik oft nicht westlichen Standards entspricht. Es zeigt sich außerdem, dass das Screening in den Ländern besser läuft, in denen es staatlich reguliert ist. Zudem hat die Studie Vermutungen bestätigt, dass die Prävalenz frühkindlicher Hörstörungen in unterentwickelten Ländern deutlich höher ist als bisher angenommen.

Resolution der WHO geplant

Katrin Neumann möchte nun noch 43 weitere Datensätze ergänzen. Dazu hat sie die Aufgabe übernommen, entsprechende Kontaktleute in den noch fehlenden Ländern zu finden. Das stellte sich als gar nicht so einfach heraus, denn in einigen Teilen der Welt gibt es kaum HNO-Ärzte und Audiologen, wie zum Beispiel im schwarzafrikanischen Malawi.

Dennoch ist die Bochumer Wissenschaftlerin zuversichtlich, dass sich die Situation von hörgeschädigten Kindern weltweit weiter verbessern wird. Sie hofft, die WHO-Verantwortlichen des deutschen Gesundheitsministeriums dazu bewegen zu können, eine neue Resolution auf den Weg zu bringen. Diese soll die Mitgliedsstaaten dazu verpflichten, nationale Pläne durchzusetzen, um Hörstörungen zu verhindern und zu bekämpfen. An der Ausarbeitung einer entsprechenden Handlungsvorgabe der WHO hat Neumann jüngst mitgewirkt.

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Unveröffentlicht

Von

Raffaela Römer

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2016 in Rubin 1/2016 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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