Graduiertenkolleg Zweite Förderphase für „Das Dokumentarische – Exzess und Entzug“
Was passiert, wenn unterschiedslos alles dokumentiert wird und dennoch die Glaubwürdigkeit leidet.
Dokumentieren ist zur selbstverständlichsten Sache der Welt geworden. Ohne Auswahl und Bewertung wird alles dokumentiert, teils vollautomatisch. Was hat das zur Folge? Und wie hängt damit die populistische Infragestellung dokumentarischer Wahrheitsansprüche zusammen, Stichwort deep fake? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der zweiten Förderphase des Graduiertenkollegs 2132 „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“ an der Ruhr-Universität Bochum (RUB), das die Deutsche Forschungsgemeinschaft für weitere viereinhalb Jahre fördert.
Dokumentieren war immer ein hochvoraussetzungsvoller, institutionell geregelter oder künstlerisch organisierter Akt. Was passiert, wenn er unseren Alltag durchdringt und wir selbst von Dokumentierten zu permanent und exzessiv (Selbst-)Dokumentierenden werden? Und wenn gar technische Apparate beziehungsweise Sensoren, die uns buchstäblich auf den Leib rücken, die Arbeit des sofortigen und automatisierten Dokumentierens übernehmen und damit von menschlichen Entscheidungen, die zwischen dokumentarwürdigen und dokumentarunwürdigen Ereignissen, Gegenständen und Vorgängen unterscheiden, unabhängig werden? Und wie erklären sich vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen Formen einer populistischen Infragestellung dokumentarischer Wahrheitsansprüche durch politisch motivierte Fiktionalisierungen, die unter den Bezeichnungen post-truth, deep fakes, conspiracy documentaries diskutiert werden?
Regeln dokumentarischer Glaubwürdigkeit
Nicht, was Dokumente sind, steht im Mittelpunkt der Forschung des Kollegs, sondern welche Praktiken und medientechnischen Innovationen, welche Rahmungen und Zuschreibungen das Feld des Dokumentierbaren hervorbringen und transformieren und welche Regeln dokumentarischer Glaubwürdigkeit jeweils zur Anwendung kommen.
In vier thematisch differenzierten Arbeitsbereichen beschäftigen sich die Dissertationen der Kollegiatinnen und Kollegiaten, von denen inzwischen zehn abgeschlossen und eingereicht wurden, nicht nur mit den für ihren Gegenstand jeweils maßgeblichen Techniken des Dokumentierens. „Sie widmen sich der unvermeidlichen Selektivität, die alles Dokumentieren kennzeichnet, und untersuchen die blinden Flecken, aber auch die experimentellen Formen, die aktivistischen Zuspitzungen sowie die künstlerischen Verfremdungen dokumentarischer Praktiken“, berichtet der Sprecher des Kollegs, Prof. Dr. Friedrich Balke vom Institut für Medienwissenschaft der RUB. „In der Forschungsarbeit erwies sich ein Konzept des Gegen/Dokumentarischen als besonders fruchtbar: Mit seiner Hilfe ist es den Dissertationen gelungen, die für alles Dokumentieren charakteristischen Ausschließungen nicht nur in den Blick zu bekommen, sondern auch Möglichkeiten ihrer Problematisierung und Überwindung in den dokumentarischen Praktiken selbst zu erforschen.“
Zwölf Doktorandenstellen
Im Kolleg stehen zwölf internationale Doktorandenstellen sowie zwei Postdocstellen zur Verfügung. Weitere zwei Promovierende, die aus anderen Mitteln finanziert werden, können als Assoziierte in das Kolleg aufgenommen werden; integriert werden zudem auch besonders qualifizierte Forschungsstudierende auf Masterniveau. Beteiligt sind am Kolleg elf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Medien- und Filmwissenschaft, der Theaterwissenschaft, der Germanistischen Literaturwissenschaft, der Komparatistik sowie der Kunstgeschichte. Zu den internationalen Kooperationspartnern des Graduiertenkollegs gehören die Northwestern University (Chicago) und die Keio University (Tokio).