Neue Methode Massenbestimmung von RNA-Strukturen
In jeder Zelle befinden sich Tausende von verschiedenen RNA-Molekülen. Um ihre Strukturen mit klassischen Methoden zu entschlüsseln, hätte man früher viele Forscherkarrieren lang gebraucht. Jetzt nicht mehr.
Forscherinnen und Forscher aus Bochum und Münster haben eine neue Methode entwickelt, um die Strukturen aller RNA-Moleküle in einer Bakterienzelle auf einmal zu bestimmen. Früher musste das für jedes Molekül einzeln gemacht werden. Die Struktur ist neben der genauen Zusammensetzung entscheidend für die Funktion der RNAs. Die neue Hochdurchsatz-Strukturkartierungs-Methode, auch Lead-Seq oder Blei-Sequenzierung genannt, beschreibt das Team in der Zeitschrift Nucleic Acids Research, online veröffentlicht am 28. Mai 2020.
Für die Arbeit kooperierten Christian Twittenhoff, Vivian Brandenburg, Francesco Righetti und Prof. Dr. Franz Narberhaus vom Lehrstuhl für Biologie der Mikroorganismen der Ruhr-Universität Bochum (RUB) mit der Bioinformatik-Gruppe von Prof. Dr. Axel Mosig an der RUB sowie dem Team um Prof. Dr. Petra Dersch von der Universität Münster, ehemals Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
Ohne Struktur keine Funktion
In allen lebenden Zellen wird die genetische Information in doppelsträngiger DNA gespeichert und in einzelsträngige RNA umgeschrieben, die dann als Bauplan für Proteine dient. Die RNA ist allerdings nicht nur eine lineare Abschrift der genetischen Information, sondern faltet sich häufig in komplexe Strukturen. Die Kombination aus einzelsträngigen und teilweise gefalteten doppelsträngigen Bereichen ist für die Funktion und Stabilität von RNAs von zentraler Bedeutung. „Wenn wir etwas über RNAs lernen wollen, müssen wir auch ihre Struktur verstehen“, sagt Franz Narberhaus.
Blei-Ionen verraten Einzelstrangpositionen
Mit der Blei-Sequenzierung stellen die Autorinnen und Autoren eine Methode vor, mit der sich sämtliche RNA-Strukturen in einer Bakterienzelle gleichzeitig untersuchen lassen. Dabei nutzen die Wissenschaftler die Tatsache aus, dass Blei-Ionen Strangbrüche in einzelsträngigen RNA-Abschnitten erzeugen; gefaltete RNA-Strukturen, also Doppelstränge, bleiben von Blei-Ionen hingegen unangetastet.
Durch die Blei-Behandlung zerlegten die Wissenschaftler die einzelsträngigen RNA-Bereiche an zufälligen Stellen in viele kleinere Fragmente, schrieben diese dann in DNA um und sequenzierten sie. Der Anfang jeder DNA-Sequenz entsprach also einem ehemaligen Strangbruch in der RNA. „Das verrät uns, dass die entsprechenden RNA-Bereiche als Einzelstrang vorgelegen hatten“, erklärt Narberhaus.
Strukturvorhersagen mittels Bioinformatik
Die experimentell gewonnenen Informationen über die einzelsträngigen RNA-Abschnitte werteten Vivian Brandenburg und Axel Mosig anschließend bioinformatisch aus. „Wir nehmen dabei an, dass nicht geschnittene RNA-Bereiche als Doppelstrang vorgelegen haben, und versuchen, mit Vorhersage-Programmen zu berechnen, wie die RNA-Moleküle gefaltet sein müssen“, erklärt Vivian Brandenburg. „Das hat mit den Informationen aus der Blei-Sequenzierung deutlich besser geklappt als ohne diese Informationen.“
Mit diesem Ansatz konnten die Forscherinnen und Forscher gleichzeitig die Strukturen von Tausenden von RNAs des Bakteriums Yersinia pseudotuberculosis auf einen Schlag bestimmen. Das Team verglich die mittels Blei-Sequenzierung gewonnenen Ergebnisse von einigen RNA-Strukturen mit Ergebnissen von klassischen Methoden – sie stimmten überein.
Neue RNA-Thermometer entdeckt
Ihre Experimente führte die Gruppe bei 25 und 37 Grad Celsius durch, da einige RNA-Strukturen sich abhängig von der Temperatur verändern. Mithilfe sogenannter RNA-Thermometer bemerken Bakterien wie der Durchfall-Erreger Yersinia pseudotuberculosis, ob sie sich im Wirt befinden. Mit der Blei-Sequenzierung identifizierte das Team nicht nur bereits bekannte RNA-Thermometer, sondern entdeckte auch einige neue.
Die Etablierung der Blei-Sequenzierung dauerte ungefähr fünf Jahre. „Ich freue mich, dass wir damit nun parallel zahlreiche RNA-Moleküle in einem Bakterium kartieren können“, sagt Projektleiter Franz Narberhaus. „Ein Vorteil der Methode ist, dass die kleinen Blei-Ionen ungehindert in lebende Bakterienzellen gelangen. Deshalb gehen wir davon aus, dass diese Methode universell einsetzbar ist und in Zukunft zur detaillierten Aufklärung des Zusammenhangs zwischen RNA-Struktur und Funktion beitragen wird.“