Neues Therapieangebot Lernen mit dem Schmerz umzugehen
Psychotherapie bei chronischen Schmerzen in der Hochschulambulanz in Bochum komplettiert die Behandlungsmöglichkeiten in NRW – auch mit Gruppentherapiesitzungen.
Es ist unerträglich: Ein dauerhafter, dumpfer Schmerz, der den gesamten Körper durchzieht. Schlafen, einkaufen gehen, Haushalt – alles ist zu einer Herausforderung geworden. Seit ihrer Schmerzerkrankung hat sich das Leben von Carol S.* völlig umgekrempelt. Früher war sie diejenige, die sich um alles gekümmert hat, sogar um andere. Ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, war ihr immer das Wichtigste. Sogar eine kleine Boutique hat sie sich selbst aufgebaut. Heute ist sie schon seit einem Jahr arbeitsunfähig. Ihren Laden musste sie aufgeben. „Andere können nicht verstehen, warum ich mich so verändert habe. Meine Schmerzen sieht man mir ja nicht an“, berichtet Carol S. im Gruppenraum der psychotherapeutischen Hochschulambulanz der Ruhr-Universität Bochum. Sie sitzt mit fünf weiteren Betroffenen und einer Therapeutin im Kreis und will verstehen, wie es so weit kommen konnte und vor allem lernen, mit ihrer belastenden Schmerzerkrankung besser zurechtzukommen.
Etwa zwölf Millionen Menschen sind in Deutschland von einer chronischen Schmerzerkrankung betroffen. Die Ursache kann vielfältig sein – Bandscheibenvorfall, Rheuma, Magen-Darm-Erkrankungen sind nur einige Beispiele. Oftmals ist auch keine eindeutige organische Ursache zu finden, was die Betroffenen gleichermaßen hilflos und frustriert zurücklässt. Dutzende Arztbesuche und Untersuchungen haben hier alle Gruppenteilnehmer schon hinter sich. Im Gruppenraum für Schmerzpatienten wollen sie einen neuen – psychotherapeutischen – Ansatz wagen.
Mehr Betroffene in kürzerer Zeit
Die Not ist groß. Wer einen Therapieplatz für Psychotherapie sucht, sucht oft lange. Deshalb ist das neue Angebot der Hochschulambulanz der Abteilung Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Ruhr-Universität Bochum ein Meilenstein. Es ist in Nordrhein-Westfalen die erste Psychotherapie-Ambulanz für Patientinnen und Patienten mit chronischen Schmerzen, und neben der Einzeltherapie ist vor allem die Gruppentherapie möglich. Das hilft, den Patientenzustrom zeitnäher zu bewältigen und ist dabei therapeutisch eine gute Alternative zu Einzelsitzungen: „Sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und auf Verständnis zu treffen ist für die Patientinnen und Patienten enorm entlastend. Gleichzeitig werden auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse gemeinsam Ideen und Strategien entwickelt, wie mit der Schmerzerkrankung sinnvoll umgegangen werden kann“, erklären Lisa Stöckner und Ina Külpmann, Ambulanzleitung und psychologische Psychotherapeutinnen, der kognitiven Verhaltenstherapie.
In der Abteilung wird insbesondere zum Bauchschmerz geforscht, weswegen unter anderem auch Menschen mit Reizdarm und Frauen mit Endometriose angesprochen sind. In Gruppen zwischen drei und neun Betroffenen liegen generell gute Erfahrungen über die Effektivität von psychotherapeutischer Gruppentherapie in internationalen Studien vor. Für die beste Zusammensetzung von Patientinnen und Patienten in den ambulanten Gruppen sorgt das eingespielte Team. Aber nicht nur Schmerzpatienten finden hier Hilfe, sondern auch Menschen mit Depressionen, Angsterkrankungen oder Traumata.
Leib und Seele beeinflussen sich wechselseitig
Wichtig ist den Therapeutinnen, die längst überholte Trennung zwischen Körper und Psyche aufzuheben. Psychische und physische Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. Das ist in tausenden wissenschaftlichen Studien international belegt: Der Schmerz belastet die Psyche. Ängste, depressive Verstimmungen, Grübelschleifen, Aufmerksamkeitslenkung und sozialer Rückzug wirken wiederum auf den Schmerz. Halten Schmerzen über mehrere Monate an, drohen sich diese zu einer eigenständigen Erkrankung zu entwickeln, die spezifische Behandlungsansätze erfordert. Während medizinische Schmerztherapeuten unter anderem mit Medikamenten und Physiotherapeuten mit körperlichen Übungen arbeiten, schlägt die kognitive Verhaltenstherapie den psychologischen Weg der Selbstwirksamkeit ein. Wenn verschiedene Berufsgruppen – also Ärztinnen, Physiotherapeuten und Psychologinnen – den Patientinnen und Patienten ganzheitlich untersuchen und eine individuelle Therapie empfehlen, nennt sich dies „multimodaler Ansatz“. Er ist die wirksamste Behandlungsoption bei Menschen mit chronischen Schmerzen, steht aber leider nicht allen zur Verfügung.
Wie lernt ein Patient, trotz der Erkrankung über sein Leben wieder unabhängig selbst zu entscheiden, sich nicht zurückzuziehen, aber sich auch nicht zu überlasten? Das sind Fragen, die in der psychotherapeutischen Hochschulambulanz in Bochum beantwortet werden. Carol S.* ist dankbar über das spezialisierte Angebot: „Das letzte Jahr hat mich völlig aus der Bahn geworfen – körperlich und psychisch. Zwischendurch war ich so fertig, dass ich gar keinen Sinn mehr darin gesehen habe, aus dem Bett aufzustehen. Ich bin froh, dass ich nun gelernt habe, wie ich aus diesem Teufelskreis wieder herauskommen kann.“
12 bis 24 Termine einmal pro Woche
Privat- wie Kassenpatienten können sich ohne Überweisung in der Ambulanz melden und einen Termin zum Erstgespräch vereinbaren. Bis zu 24 Sitzungen sind der Weg zum Therapieziel, denn die Patientinnen und Patienten sollen lernen, später auch ohne Therapie ihre Krankheit zu meistern. Im internationalen Bereich, vor allem in den USA, Großbritannien und den skandinavischen Ländern, ist dieser gruppenpsychotherapeutische Ansatz bereits erprobt. „Die Wissenschaft gibt uns recht“, bestätigt Prof. Dr. Sigrid Elsenbruch, Leiterin der Abteilung der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied des Sonderforschungsbereichs „Treatment Expectation“ (Behandlungserwartung) an der Universität Essen.
Intensive Begleitforschung
„Die Placeboforschung hat uns gezeigt, dass Lernerfahrungen in der Therapie hilfreich sind, und das nutzen wir zusätzlich in diesem Angebot“, so Elsenbruch. Entscheidend sei die Erwartungshaltung eines Patienten für den Therapierfolg und mit einer Psychotherapie lässt sich das Erwartungsmanagement in die heilende Richtung lenken. Elsenbruch selbst erforscht im Rahmen des Sonderforschungsbereichs – von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert –, wie Behandlungserwartungen den Bauchschmerz und das Reizdarmsyndrom beeinflussen und den Therapieerfolg steigern können. Und so soll der Nutzen des Therapieansatzes belegt und weiter erforscht werden. „Erwartungen sind dynamische Konstrukte und die Patienten selbst können sie mit unserer Hilfe verändern, ja verbessern“, weiß die Psychologin.
*Name von der Redaktion geändert
Was macht der Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“?