Norbert Brockmeyer leitet das Zentrum für Sexuelle Gesundheit an der Universitätshautklinik.
© RUB, Marquard

Weltaidstag „Sex ist zum Konsumgut geworden“

Warum wir trotz moderner HIV-Therapie nicht leichtsinnig werden sollten.

Junge Menschen haben heute in Deutschland ein geringeres Risiko, sich mit HIV zu infizieren, weil die meisten HIV-infizierten sehr gut behandelt werden. Eine gute Nachricht zum Weltaidstag am 1. Dezember. Ein Freibrief für ungeschützten Geschlechtsverkehr ist das aber nicht, auch weil die HIV-Spätdiagnosen unverändert hoch bei 30 Prozent liegen, sagt Prof. Dr. Norbert Brockmeyer, Leiter des Zentrums für Sexuelle Gesundheit der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der RUB.

Herr Professor Brockmeyer, aufgrund der Medienberichterstattung könnte man meinen, HIV habe seinen Schrecken verloren. Stimmt das?
Der Schrecken vor Aids, also dem Vollbild einer HIV-Infektion, ist in Deutschland überwunden – doch nicht die dadurch ausgelösten psychischen Traumata. Bei HIV haben wir zurzeit etwas Ruhe an der Neuinfektionsfront. Die Zahlen gehen durch die sehr gute Therapie, die wir den Menschen bieten können, zurück.

Syphilis ist heute wieder fast so häufig wie in den 1970er-Jahren.

Auch die Präexpositionsprophylaxe wird – so sie denn hoffentlich über die gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden kann – eine zusätzliche Verringerung bringen. Damit ist eine vorbeugende tägliche Medikamenteneinnahme bei Menschen gemeint, die ein erhöhtes Risiko haben, sich mit HIV anzustecken. Dazu gehören Menschen mit vielen Sexualkontakten, etwa Männer, die Sex mit Männern haben. Für diese Gruppen könnte die gesetzliche Krankenkasse die Kosten der Prophylaxe übernehmen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt schon vor. Damit können wir auch Menschen schützen, die wir bisher nicht erreichen konnten.

Was halten Sie von dem HIV-Selbsttest, der seit einiger Zeit verfügbar ist?
Der Selbsttest ist im Prinzip eine gute Sache. Aber wir sollten sehr wachsam sein, da er dazu verleiten kann, dass sich die Leute in Sicherheit wiegen und vergessen, dass es auch andere sexuell übertragbare Infektionen, kurz STI, gibt. Die Infektionen mit Chlamydien zum Beispiel nehmen stark zu. Sie können schwerwiegende Komplikationen mit sich bringen und zum Beispiel zu Schwangerschaftskomplikationen und ungewollter Kinderlosigkeit führen.

Auch die Gonorrhöe, also Tripper, ist wieder auf dem Vormarsch, auch bei Heterosexuellen. Und die Häufigkeit der Syphilis ist heute wieder fast so hoch wie in den 1970er-Jahren zur Zeit der freien Liebe.

Wie erklären Sie sich das?
Das Sexualverhalten hat sich seit Ende der 1990er-Jahre verändert. Einerseits beobachte ich eine zunehmende Prüderie – aber nach drei Bier sind die Leute bereit zu freier Sexualität.

Die elektronischen Medien haben ihren Teil sicher auch beigetragen. Man hat durch Dating-Apps viel leichteren Zugang zu potenziellen Sexualpartnern und kommt ohne Umschweife zur Sache. Hinzu kommt, dass die Vielfalt der Lebensformen zunimmt. Sex ohne Liebe ist salonfähig geworden. Man hat einen Partner, den man liebt, und zwei oder drei andere fürs Bett. Weniger Menschen sind bereit, sich hundertprozentig festzulegen.

Ich habe außerdem den Eindruck, der Zeitgeist ist von einer Art Endzeitstimmung geprägt. Man spürt das Gefühl von „Tanz auf dem Vulkan“, so ähnlich wie in der Serie „Babylon Berlin“: Viele Menschen haben eine tiefe Verunsicherung, die dazu führt, dass die Hauptsache ist, jetzt viel und schnell zu leben.

Nach drei Bier sind die Leute bereit zu freier Sexualität.

Sex ist zum Konsumgut geworden wie vieles andere. Keiner kann mehr warten. Früher gab es Konsumtempel, der Kauf wurde zelebriert. Heute ist alles schnell und sofort da, billig und wird nach Gebrauch schnell weggeworfen.

Was ist vor diesem Hintergrund die Strategie, um die Menschen vor sexuell übertragbaren Infektionen zu schützen?
Gegen den Zeitgeist kann man nur verlieren, und alle 15-Jährigen fühlen sich unsterblich. Erfolgreiche Aufklärungskampagnen setzen daher auf Empowerment: Es muss uns gelingen, den jungen Menschen die Verantwortung für die eigene Gesundheit bewusst zu machen und sie so stark zu machen, dass sie sich trauen zu sagen: Ja, ich schlafe mit dir, aber nur mit Kondom. Dazu gehört ein gutes Selbstvertrauen.

Der Erfolg der Kampagnen für die Impfung gegen das Humane Papillomavirus zeigt, dass das möglich ist. Mädchen, die sich gegen Humane Papillomaviren haben impfen lassen, haben nachweislich später auch weniger andere sexuell übertragbare Infektionen.

Zur Person

Norbert Brockmeyer arbeitet seit 1998 an der Dermatologischen Klinik der Ruhr-Universität Bochum, er ist dort seit 2006 Direktor für Forschung und Lehre. Zwischen 1997 und 2007 war er Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft. Seit 2009 leitet er das Zentrum für Sexuelle Gesundheit an der Universitätshautklinik. Er ist Sprecher des Kompetenznetzes HIV/Aids und Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, die sich mit sexuell übertragbaren Erkrankungen – englisch sexually transmitted infections (STI) – und sexueller Gesundheit befasst.

Veröffentlicht

Mittwoch
28. November 2018
10:56 Uhr

Von

Meike Drießen

Teilen