Entwicklungsneurobiologie Wie junge Nervenzellen wachsen
Die Axone reifender Nervenzellen wachsen schneller, wenn sie nicht dem Zellkörper, sondern einem Dendriten entspringen. Wenn nicht, lässt sich durch optogenetische Stimulation ein schnelleres Wachstum anregen.
Nervenzellen verfügen über kurze Dendriten und lange Axone. Während Dendriten Signale aufnehmen und an den Zellkörper weitergeben, leiten Axone Signale an andere Zellen weiter. Nicht alle Axone entspringen aber dem Zellkörper: Sie können auch aus Dendriten entspringen. Bei den inhibitorisch wirkenden Korbzellen der Großhirnrinde wachsen solche Axone schneller. Das konnte ein Forschungsteam um Prof. Dr. Petra Wahle der Arbeitsgruppe Entwicklungsneurobiologie der Ruhr-Universität Bochum zeigen. Darüber hinaus gelang dem Team der Nachweis, dass durch optogenetische Stimulation auch Axone mit Ursprung vom Zellkörper schneller wachsen können. Die Forschenden berichten in der Zeitschrift DEVELOPMENT vom 30. Oktober 2023.
Axon-tragende Dendriten gelten als privilegiert
Der als Axon bezeichnete Fortsatz der Nervenzellen dient der Weiterleitung der elektrischen Signale an nachgeschaltete Neuronen. Entgegen dem Lehrbuchwissen entspringen die Axone nicht ausschließlich dem Zellkörper. Besonders bei den hemmend wirkenden sogenannten Interneuronen der Großhirnrinde der Säugetiere entspringen Axone oftmals von einem Dendriten. Dendriten sind kurze, zweigartige Fortsätze von Nervenzellen, die für den Empfang von Signalen zuständig sind und diese Signale in Richtung Zellkörper weiterleiten.
Über die biologische Funktion der Axon-tragenden Dendriten weiß man noch wenig. Für gewöhnlich verrechnet ein Neuron die erregenden synaptischen Eingänge auf die Dendriten mit den hemmenden Eingängen unter anderem am Zellkörper. Axon-tragende Dendriten gelten als privilegiert, weil erregende Eingänge auf diesen Dendriten in der Lage sind, unter Umgehung der Hemmung am Zellkörper direkt Aktionspotenziale am Axon auszulösen.
Diskothek für junge Neuronen
„Eigentlich wollten wir im Projekt herausfinden, ob wir das Wachstum von Dendriten durch optogenetische Stimulation fördern können. Dazu wird ein Sehfarbstoff aus Algen, das Channelrhodopsin, in einzelne Nervenzellen eingebracht. Durch kurze Blitze mit blauem Licht – vergleichbar einer Diskothek mit Stroboskoplicht – werden die Zellen erregt“, erklären Steffen Gonda und Ina Köhler vom Forschungsteam. Zusammen mit Prof. Dr. Andreas Reiner und der Fakultätswerkstatt wurde ein „slice disco“-Gerät entwickelt und gebaut, mit dem organtypische Schnittkulturen vom Neocortex der Ratte wiederholt über mehrere Tage mit Blaulicht stimuliert werden können.
Unerwarteterweise waren die Dendriten danach jedoch kürzer. „Wir fragten uns dann, ob die Stimulation vielleicht bevorzugt das Wachstum von Axonen fördert, und haben begonnen, die gefärbten Axone der Interneuronen dreidimensional zu vermessen“, erklären Petra Wahle und Christian Riedel. „Und sofort gerieten wir in eine rund zwei Jahre dauernde statistische Achterbahn aus ‚Ja, signifikantes Wachstum‘ und ‚Nein, doch kein Wachstum‘“, erinnert sich Petra Wahle. „Bis wir erkannten, dass es nicht ausreicht, einfach nur die axonalen Messwerte aller Kontrollzellen mit denen aller Blaulicht-stimulierten Zellen zu vergleichen“.
Schlagartig Klarheit
Als das Team die Neuronen der beiden Gruppen jeweils getrennt nach axonalem Ursprung vom Zellkörper beziehungsweise vom Dendriten untersuchte, wurde das Bild schlagartig klar: Entspringt das Axon vom Dendriten, bildet es lokal dichtere Verzweigungen, und der Axon-tragende Dendrit ist zumeist der größte Dendrit. Dazu brauchte es keinerlei Stimulation. Offenbar reicht die spontane elektrische Aktivität der Neuronen aus, um das Wachstum der beiden Zellfortsätze zu beschleunigen. Glücklicherweise konnte das Team das ursprüngliche Ziel auch erreichen: Interneurone mit dem Axon vom Zellkörper bilden ebenfalls lokal dichtere Verzweigungen, allerdings erst nach technischer Hilfe durch die optogenetische Stimulation.
Zusammengefasst zeigen die Studien, dass neuronale Differenzierungsprozesse durch optogenetische Stimulation zu beeinflussen sind, und dass die morphologische Besonderheit der Axon-tragenden Dendriten für Interneurone eine wachstumsfördernde Wirkung hat.