Neues Lehrbuch Die evolutionären Ursachen für Krankheiten
Diabetes, Krebs, psychische Störungen – um diese Krankheiten zu verstehen, muss man weit zurückblicken.
Bei der Frage, was Menschen krankmacht, reicht es nicht, auf genetische Faktoren, Umwelt, Keime, Gifte und Stoffwechselveränderungen zu schauen. Für ein umfassendes Verständnis muss die menschliche Natur in Bezug zur eigenen Stammesgeschichte gesehen werden. Mit dieser These befasst sich das neue „Oxford Handbook of Evolutionary Medicine“, das im Februar 2019 erschienen ist. Prof. Dr. Martin Brüne, Psychiater am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum, hat es gemeinsam mit Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel, emeritierter Professor der Ludwig-Maximilian-Universität in München, im Verlag Oxford University Press herausgegeben.
Das knapp 1.000 Seiten dicke Lehrbuch gibt einen Einblick in die evolutionäre Geschichte des Menschen und erklärt, warum die im Lauf der Jahrtausende entstandene Physiologie anfällig für bestimmte Krankheiten ist. Das Werk ist wie ein Lehrbuch der Physiologie und Pathophysiologie aufgebaut und richtet sich an Studierende und Wissenschaftler in der Medizin, Biologie, Anthropologie und Psychologie.
Evolution: langsam und schnell
Evolution wird gemeinhin als langsamer Prozess wahrgenommen. „Was den anatomischen Bauplan angeht, ist sie das auch“, sagt Martin Brüne. „Wir gehen noch genauso auf zwei Beinen wie vor anderthalb Millionen Jahren. Aber bei wichtigen Krankheitsprozessen können wir der Evolution quasi unter dem Mikroskop zuschauen.“ Viele bösartige Tumore und pathogene Keime verändern sich genetisch ständig und versuchen so, dem Immunsystem zu entkommen.
„In vielerlei Hinsicht ist der Mensch – physisch und psychisch – an längst vergangene Umwelten angepasst“, erklärt Brüne. Damit meint er nicht nur ältere Versionen von Krankheitserregern, sondern auch die Tatsache, dass der Mensch sich früher stärker körperlich betätigte, mit großen Schwankungen im Nahrungsangebot umgehen musste und vermutlich weniger psychosozialen Dauerstress erfuhr. Für viele moderne Krankheiten – etwa Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs – gibt es inzwischen evolutionsmedizinische Erklärungen. Auch für zahlreiche psychische Störungen diskutieren Fachleute solche Ansätze.
„Ein besseres Verständnis dafür, wie Evolution im Kleinen und im Großen funktioniert, kann helfen, neue Therapiemöglichkeiten zu entwickeln“, folgert Brüne. Es sei daher zu fordern, Evolutionäre Medizin viel stärker als bisher im Studium zu verankern.