Der Bochumer Philosoph Albert Newen interessiert sich dafür, was im Gehirn passiert, wenn Menschen komplexe Muster wahrnehmen. © RUB, Marquard

Graduiertenkolleg verlängert Die zentralen Eigenschaften unserer geistigen Fähigkeiten

Den Forschenden geht es darum, das systematische Zusammenspiel von Gehirn, Körper und Umwelt bei der Beschreibung und Erklärung kognitiver Fähigkeiten zu berücksichtigen.

Das Graduiertenkolleg „Situierte Kognition“ geht in die zweite Förderphase. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellt für die Verlängerung bis 2026 rund 3,5 Millionen Euro zur Verfügung. Hauptziel des Kollegs ist es, die Defizite bisheriger Konzepte von Geist und Kognition herauszuarbeiten und eine neue Beschreibung und Erklärung kognitiver Fähigkeiten zu entwickeln. Das Kolleg lebt von der intensiven Zusammenarbeit der Forschenden an der RUB und der Universität Osnabrück. Unter der Leitung des Sprechers Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II in Bochum und des Ko-Sprechers Prof. Dr. Achim Stephan vom Institut für Kognitionswissenschaft in Osnabrück konnten Synergien entwickelt werden, auf denen die Teams aufbauen.

Bei den Arbeiten steht die These im Zentrum, dass eine adäquate Theorie von Geist und Kognition sich nicht allein auf neuronale Prozesse beschränken kann, sondern das systematische Zusammenspiel von Gehirn, Körper und Umwelt berücksichtigen muss.

Die vielfältigen Aufgaben eines Neurons

Die Promovierenden konnten in kooperativen Teams Arbeiten zu verschiedensten Themen auf den Weg bringen. Darunter ist zum Beispiel eine Kritik der Modularitätsthese, die eine klassische Annahme der Kognitionsforschung durch empirische und theoretische Arbeiten infrage stellt: die Annahme, dass es stark abgegrenzte Module im Gehirn zur Verarbeitung für Prozesse des Wahrnehmens, Denkens und Handelns gibt. Julian Packheiser konnte für ein einzelnes Neuron bei Tauben nachweisen, dass es ganz entgegen der Erwartung an allen drei Prozessen beteiligt ist. „Insgesamt braucht es deshalb ein neues Bild von Erklärungen kognitiver Prozesse mit Blick auf Hirnzustände“, so Albert Newen. Hierzu hat Matej Kohar in seiner philosophischen Dissertation einen Vorschlag entwickelt.

Das Zusammenspiel von Gehirn, Körper und Umwelt steht im Mittelpunkt der Forschung. © Albert Newen

Raumorientierung mit Magnetgürtel

Auch zur Relevanz vom Umweltfaktoren arbeiteten die Promovierenden. So untersuchte die Arbeitsgruppe von Peter König die Raumorientierung mithilfe eines Magnetgürtels. Von vielen kleineren Motoren am Gürtel virbriert immer derjenige, der in Richtung Norden zeigt. Testpersonen können mit diesem Gürtel einen neuen Sinn für Raumorientierung lernen, auch ohne zu sehen. Nikolas Kuske konnte zeigen, dass nach einer Trainingsphase mit dem Gürtel bei einem Test unter Normalbedingungen ohne Gürtel die Verarbeitung von räumlichen Informationen verändert ist: Man erwartet nach der Trainingsphase weiterhin die Vibrationsinformation und stützt sich dann langsam wieder auf die für uns üblichere Raumorientierung mit einer mentalen Karte.

Neue Perspektiven für soziales Verstehen

Weitere Arbeiten widmeten sich sozialen Rahmenbedingungen: Für Kleinkinder zwischen neun und zwölf Monaten konnte Samantha Ehli zeigen, dass sie bei einer Herausforderung, die ihnen ein wenig Angst macht, der Suche nach Hinweisen bei einer nicht so stark vertrauten Person Vorrang geben und nicht nur emotionalen Halt bei der Mutter suchen. Macht die Situation große Angst, ist jedoch die Suche nach emotionalem Halt bei der Mutter immer dominant. In einer theoretischen Arbeit hat Julia Wolf eine Lösung für ein offenes Problem der Entwicklungspsychologie publiziert, dem sogenannten Paradox des Erfassens von falschen Überzeugungen bei anderen: Wie ist es möglich, dass ein dreijähriges Kind bei nichtsprachlichen Tests im Antwortverhalten berücksichtigt, dass der Andere etwas nicht weiß, während in Bezug auf denselben Sachverhalt die sprachliche Antwort das Nichtwissen des Anderen außer Acht lässt?

Rahmenbedingungen für die Radikalisierung

In der zweiten Förderphase werden die philosophischen Analysen fortgeführt und mit neuen Anwendungen verknüpft. Dabei rücken die Kognition bei Tieren sowie extreme psychische Bedingungen in den Fokus. „In einem Projekt geht es zum Beispiel darum, die affektiven Rahmenbedingungen aufzuarbeiten, die für eine Radikalisierung hin zu einem Terrorattentäter typisch und wohl auch notwendig sind. Theoretisch benötigen wir dazu eine Philosophie der affektiven Einbettung von kognitiven Bewertungen“, erklärt Achim Stephan.

Der fachliche Erfolg des Graduiertenkollegs basiert auf einem besonderen Qualifizierungskonzept mit intensiver Mitwirkung eines Postdocs, bisher Dr. Beate Krickel, als Bindeglied: Sie ist mittlerweile als Professorin an der Technischen Universität Berlin tätig. „Wir sind stolz auf die Leistungen der Nachwuchswissenschaftler*innen“, sagt Albert Newen.

Veröffentlicht

Montag
10. Mai 2021
09:15 Uhr

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