Theaterwissenschaft Die Unübersichtlichkeit der globalisierten Welt
Die Globalisierung lässt vieles gleicher werden, fördert aber auch Widersprüche zutage. Das Theater sucht Wege, das erfahrbar zu machen.
War die Theaterbühne früher noch als ein Fenster zur Welt gedacht, wird Theater heute zu einem Ort, an dem das Publikum erfahren kann, wie wenig übersichtlich und einheitlich die Welt eigentlich ist. Wie Theaterschaffende das bewerkstelligen und welche Bezüge diese Art von Theater zur Globalisierung hat, hat Dr. Leon Gabriel vom Institut für Theaterwissenschaft der RUB untersucht. Seine Dissertation „Bühnen der Altermundialität“ hat er als Buch im Neofelis Verlag veröffentlicht.
Es geht nicht mehr um das Hineinversetzen in eine Person
Theater verhandelt zunehmend die Vielheit verschiedener, sich widersprechender Welten und ihren jeweiligen Zugängen. „Es geht im Gegenwartstheater vielfach kaum noch darum, dass sich jede*r Zuschauer*in in die Schuhe eines psychologisch dargestellten Charakters versetzen kann“, erklärt Leon Gabriel. „Stattdessen rücken Erfahrungen und die Art, wie wir überhaupt zu einem Geschehen Bezug nehmen, in den Vordergrund.“ Behandelt wird nicht mehr die Bebilderung der Welt, sondern vielmehr die Art, wie wir zu sehr unterschiedlichen Orten, Dingen und Menschen in Bezug treten – gerade als Zuschauende und Beteiligte.
Als Beispiele nennt der Forscher die vielen Theaterinszenierungen, die ihr Publikum in Bewegung versetzen, bei dem die Zuschauenden wie in großen Installationen einbezogen werden, und die sich schon allein deswegen einer scheinbar ganzheitlichen Übersicht verweigern. „Früher wurde Theater als eine Bildmaschine zum Zeigen gebaut, heute entwerfen Theaterinszenierungen oft immer neu ihre Räume und ihre Settings, wodurch Zuschauende in ganz verschiedenen Konstellationen mit dem Geschehen der Bühne zu tun haben oder direkt darin involviert werden“, erklärt Gabriel.
Die paradoxe Wirkung der Globalisierung
Er zieht daraus den Schluss, dass diese Abkehr vom Bild der Welt mit der Globalisierung zusammenhängt – auf eine zunächst paradox wirkende Weise: Zunächst hat sich durch die Globalisierung die europäische Vorstellung der Welt als einer geschlossenen Einheit durchgesetzt. Nun treten jedoch die Beziehungen innerhalb dieser Welt in den Vordergrund. „An ihnen zeigt sich, dass sich im Globalen sehr widersprüchliche Tendenzen finden, dass tatsächlich gar nicht alles mit allem vernetzt ist, wie oft behauptet wird“, so Leon Gabriel. Kurz: Im Zuge der Globalisierung zeigt sich, dass wir zwar auf einem Planeten leben, der zwar in vielerlei Hinsicht zunehmend nach denselben Regeln und Standards funktioniert, der jedoch andererseits immer neue Widersprüche generiert. Je mehr diese auftauchen, desto wichtiger werde es, zu untersuchen, welche spezifischen Beziehungen und Verzahnungen sich auftun.
Genau hier setzt Theater an: Statt einem Fenster zur Welt bietet es die Möglichkeit zu untersuchen, was erst eine Welt erzeugt und wie wir mit ihr zu tun haben – und zwar für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kontexten.