Experimentelle Philosophie Tadele den Boss und lobe den Mitarbeiter
Bei moralischen Urteilen ist es uns egal, welchen Status derjenige hat, dessen Handlungen wir bewerten – oder? Philosophen haben eine entlarvende Studie veröffentlicht.
Lob und Tadel verteilen wir eigentlich, wenn wir wissen, dass eine Person die Folgen ihrer Handlung kennt und beabsichtigt hat. Wenn ihr diese Folgen zwar bekannt, aber auch egal sind, messen wir mit zweierlei Maß, je nachdem, welchen sozialen Status der Handelnde hatte. Das haben Philosophen der Ruhr-Universität um Prof. Dr. Albert Newen herausgefunden. Sie berichten im International Journal of Cross Cultural Management.
Onlinebefragung in Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten
Für ihre Studie führten die Forscher eine Onlinebefragung unter 204 Studierenden durch, von denen die eine Hälfte aus Deutschland, die andere Hälfte aus den Vereinigten Arabischen Emiraten stammte. Sie nahmen Stellung zu der Frage, was sie in folgendem Fall tun würden: Ein Unternehmenschef bringt ein neues Produkt auf den Markt, das der Firma Profit bringen wird, aber als Nebeneffekt entweder Kunden oder Umwelt nachhaltig schädigen oder nachhaltig fördern wird. Diese Nebeneffekte sind dem Boss bekannt, aber egal.
Man unterstellt schlechte Absichten
Wie in älteren Studien schon für die USA zeigt sich auch in der aktuellen Studie für Deutschland und die Vereinigten Arabischen Emirate, dass die Studierenden den Chef stark für die negativen Folgen seiner Entscheidung tadeln, für die positiven aber kaum loben. „Sie unterstellen dem Boss, dass er die Schädigung absichtlich herbeigeführt hat, während sie die Förderung als unabsichtlich einstufen“, erklärt Albert Newen. „Das zeigt, dass unser klassisches Bild verkürzt ist: Absichtliches Handeln ist nicht immer Voraussetzung für eine moralische Bewertung.“
Wenn der Mitarbeiter mitentscheidet
Ein weiterer Baustein unseres klassischen Bildes von moralischer Bewertung ist, dass sie ohne Ansehen der Person stattfindet. Ihn nehmen die Forscher im zweiten Teil der Studie genau unter die Lupe, indem sie neben dem Chef einen Arbeitnehmer einführen. Er schlägt ein neues Produkt mit zu erwartendem Gewinn vor und weist auf langfristige Schädigung oder Förderung hin.
Der Boss entscheidet die Produkteinführung mit dem Hinweis, dass ihm die Nebeneffekte egal sind, und bittet um Mitwirkung. Der Mitarbeiter sagt ebenfalls, dass ihm Schädigung oder Förderung egal sind. Werden Boss und Arbeitnehmer in diesem Szenario moralisch gleich bewertet? Und gibt es bei der Bewertung des Arbeitnehmers kulturelle Unterschiede?
Unterschiedliche Hierarchieauffassungen
Interessanterweise bewerteten die Studierenden den Mitarbeiter genau anders herum als den Chef: Bewirkte die Handlung eine Schädigung als Nebeneffekt, tadelten sie den Mitarbeiter deutlich weniger. Hatte die Handlung positive Nebeneffekte, erhielt der Mitarbeiter deutlich mehr Lob als der Chef.
„Der interessante kulturelle Unterschied besteht nun darin, dass diese umgekehrte Tendenz der Bewertung bei den deutschen Teilnehmern leicht und bei den arabischen Teilnehmern sehr stark ausgeprägt ist“, so Albert Newen. „Wir können diese signifikanten Unterschiede durch unterschiedliche Hierarchieauffassungen erklären. Während in Deutschland die Hierarchie von Boss und Arbeitnehmer flach ist, ist diese in den Arabischen Emiraten sehr stark. Dem deutschen Arbeitnehmer bleibt eine gewisse Mitverantwortung für Schädigungen als Nebeneffekt, dem aus den Vereinigten Arabischen Emiraten nicht.“
Moral auf dem Prüfstand
In weiteren Studien wollen die Forscher fragen, welchen Einfluss soziale Rollen wie Boss oder Arbeitsnehmer in der moralischen Zuschreibung haben und in welchem Maße sie in eine Ethik einfließen sollten. „Müssen wir unsere a priori-Moral auf den Prüfstand stellen?“, spitzt Albert Newen zu.
Neue Forschungsrichtung
Die Studie hat eine neue Forschungsrichtung Experimentelle Philosophie in Deutschland mit eröffnet. Eine erste Netzwerktagung „Experimental Philosophy Germany“ fand 2015 in Bochum statt.