Jura Wie die Masern-Impfpflicht juristisch zu rechtfertigen ist
Bei der Abwägung zwischen elterlichem Erziehungsrecht und Bevölkerungsschutz hat sich die Politik für Letzteres entschieden. RUB-Forscherin Andrea Kießling diskutiert das Für und Wider.
Die neue Masern-Impfpflicht, die am 1. März 2020 in Deutschland eingeführt wurde, ist verfassungsmäßig. Zu diesem Schluss kommt Dr. Andrea Kießling vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Sie hat die Einführung der Impfpflicht verfolgt und die Argumente dafür und dagegen abgewogen. Das Bochumer Wissenschaftsmagazin Rubin berichtet über ihre Arbeit.
Die neue Impfpflicht gilt für Kitas, Kindergärten, Schulen und Flüchtlingsunterkünfte. Alle, die dort arbeiten oder diese Einrichtungen in Anspruch nehmen, müssen bis spätestens 31. Juli 2021 einen vollständigen Impfschutz nachgewiesen haben. Wer dem nicht nachkommt, kann seinen Kita-Platz verlieren, oder es droht ein Bußgeld.
Ein Eingriff in die elterlichen Rechte
Kritiker sagen, dass es sich bei der Impfpflicht um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und in die elterlichen Rechte handle. „Das ist es natürlich auch“, sagt Andrea Kießling. „Aber der Eingriff ist zu rechtfertigen. Denn es geht um den Schutz der Bevölkerung. Das Ziel ist es, eine Herdenimmunität zu erreichen, sodass auch nicht Geimpfte geschützt sind.“ Kinder, die noch keine elf Monate alt sind, oder Menschen mit Immunschwäche können beispielsweise nicht geimpft werden. Experten zufolge wären sie bei einer Durchimpfungsrate von 95 Prozent vor einer Masern-Verbreitung sicher.
Die Art der Krankheit ist entscheidend
„Bei einer Impfpflicht muss man immer betrachten, um welche Krankheit es geht“, erklärt Andrea Kießling. „Wie schwer verläuft sie? Wie ansteckend ist sie?“ Eine Impfpflicht für Windpocken wäre zum Beispiel nicht verhältnismäßig, weil die Krankheit zwar ansteckend ist, aber maximal Narben als bleibende Schäden auslöst. Gleiches gilt für die zwar schwer verlaufende, aber nicht ansteckende Tetanus-Krankheit.
Masern hingegen sind hoch ansteckend und können schwere Folgen haben. Da die Viren das Immunsystem schwächen, treten oft Begleiterkrankungen auf, die schwere Komplikationen verursachen können. Bei diesen Voraussetzungen kann der Gesetzgeber sich auf bevölkerungsmedizinische Gründe stützen und zum Schutz der Gemeinschaft eine Impfpflicht durchsetzen.
Nur Dreifachimpfung verfügbar
Einen Haken hat das Masernschutz-Gesetz in seiner jetzigen Form jedoch, erklärt Andrea Kießling: „In dem Gesetzestext und in der Begründung ist ausschließlich von Masern die Rede“, sagt die Forscherin. „In der Praxis ist in Deutschland aber nur ein Dreifachimpfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln im Einsatz. Das Gesetz wirkt faktisch also auch als Impfpflicht für andere Krankheiten.“ Allerdings müsste wegen dieser Schwachstelle nicht unbedingt das Gesetz geändert werden. In anderen Ländern gibt es auch Impfstoffe, die nur gegen Masern wirken und die auch in Deutschland auf den Markt gebracht werden könnten.
Impfpflicht gilt auch für Flüchtlingsunterkünfte
Auch die Impfpflicht in Flüchtlingsunterkünften hält Andrea Kießling für verhältnismäßig. „Der Impfstatus der geflüchteten Menschen ist oft nicht bekannt, und sie kommen häufig aus Ländern mit einem schlechter strukturierten Gesundheitssystem. Daher muss man davon ausgehen, dass die Impfquote in Flüchtlingsunterkünften schlechter ist als in der breiten Bevölkerung Deutschlands“, begründet die Juristin.