
Herausforderung Im Rollstuhl über den Campus
Die U-Bahn ist überfüllt, vor dem Aufzug das Gedränge groß. Für jemanden, der im Rollstuhl sitzt, sind das die geringsten Probleme.
Schon unter normalen Bedingungen kann der Weg zum Seminarraum zur Geduldsprobe werden. Wie viele Hindernisse tatsächlich auf dem Campus lauern, wird mir jedoch erst bewusst, als ich den Weg im Rollstuhl zurücklege. Ich bin mit Tanja Kollodzieyski verabredet. Für die Germanistik- und Komparatistikstudentin ist die Fahrt im Rollstuhl Alltag. Mit ihr werde ich den Campus auf ganz neue Weise er- und vor allem befahren.
Meine erste Lektion lautet: Wer seinen Rollstuhl selbst voranbringen will, muss etwas für den Bizeps tun. Im Schneckentempo und meist geschoben folge ich Tanja, die mir den Weg von der Unibrücke bis zum Seminarraum im GB zeigen will. Zu Fuß brauche ich für diesen Weg keine fünf Minuten – auch das ist bei meinem Experiment anders. Der direkte Weg zur G-Reihe bleibt uns versperrt, immer wieder bilden Treppenstufen unüberwindbare Hindernisse.
Kopfsteinpflaster als Herausforderung
Vorbei an der UB bahnen wir uns den Weg zum HZO, um dort mit dem Fahrstuhl eine Ebene tiefer zu gelangen. Für mich als völlig ungeübte Rollifahrerin sind das Kopfsteinpflaster vor dem HZO und die Türschwelle echte Herausforderungen. Zweimal falle ich fast vornüber aus dem Rollstuhl, weil meine Vorderräder auf Widerstand stoßen.
„Das passiert mir bei den kaputten Platten auch öfter, einmal bin ich fast herausgefallen“, sagt Tanja. Zum Glück war ihr Assistent Marc André Gruner zur Stelle. Mit viel Schwung und fremder Hilfe überwinde ich schließlich die nur wenige Zentimeter hohe Metallschiene und rolle ins HZO und hole den Aufzug: Die enge blaue Metallkammer ist leider völlig verschmutzt und mit Edding und Kaugummis dekoriert.
Eine Etage tiefer angekommen, sind wir längst noch nicht am Ziel. Der Aufzug im HZO fährt nur diese eine Etage, und wir müssen noch eine tiefer. Diesmal wollen wir den Aufzug vor der Mensa nehmen. Ich drücke auf den Knopf. Der Aufzug kommt nicht. Auch der blaue Aufzug hinter dem Audimax ist außer Betrieb. „Ich finde es schade, dass man darüber nicht informiert wird“, sagt Tanja.
Ob ein Fahrstuhl fährt oder nicht, merkt sie erst, wenn sie davor steht. Es kam schon vor, dass sie wieder nach Hause fahren musste, weil sie keinen funktionierenden Aufzug gefunden hat. Die Vorlesung musste für sie ausfallen. „Aber ich wäre nach all dem Suchen ohnehin viel zu spät gekommen“, sagt Tanja. Zum Glück können wir einen der Fahrstühle im Mensagebäude benutzen.
Nicht auf Augenhöhe
Immer wieder bleibe ich mit den Vorderrädern in kleinen Lücken in den Pflastersteinen hängen, die ich noch nie wahrgenommen habe. Nach einer guten Viertelstunde sind wir endlich im GB. Immer wieder laufen mir Kollegen und Kommilitonen über den Weg, die mich entsetzt fragen, warum ich im Rollstuhl sitze. Dabei merke ich, dass ich im Rollstuhl einige Köpfe kleiner bin als mein Gegenüber. Ein Gespräch auf Augenhöhe ist so kaum möglich.
Plötzlich fühle ich mich nicht mehr ganz wohl in meinem neuen Fortbewegungsmittel. Ein Gefühl, das Tanja nur zu gut kennt. „Besonders Dozenten sprechen nur meinen Assistenten an. Viele haben große Berührungsängste. Irgendwann verliert man die Lust, die Leute darauf hinzuweisen, dass man mit mir kommunizieren kann.“
Viele finden, dass sie das gleiche Recht haben, mit dem Aufzug zu fahren.
Tanja Kollodzieyski
Nur noch eine Aufzugfahrt trennt uns vom Seminarraum. Doch zu Stoßzeiten ist es kaum möglich, in einem der Aufzüge mit Rollstuhl einen Platz zu finden. „Ich verstehe nicht, warum manche Studenten für ein paar Stockwerke nicht laufen“, sagt Tanja. Manche werden sogar bockig, wenn Tanja sie bittet, mitzufahren. „Viele finden, dass sie das gleiche Recht haben, mit dem Aufzug zu fahren.“ Doch Tanja kann nicht einfach auf die Treppe ausweichen.
Nicht selten muss sie 15, 20 Minuten warten. Sich einfach dazwischen zu drängen, ist mit Rollstuhl unmöglich. Wenn gerade Vorlesungen sind, geht es. Aber dann kommt sie selbst zu spät. „Es gibt natürlich auch einige, die darauf achten, aber der Masse ist es egal, ob ich in den Aufzug komme“, erklärt Tanja.
Endlich geschafft
Als endlich ein freier Aufzug kommt, ist Fingerspitzengefühl gefragt: Die Tür ist schmal, nur ein paar Zentimeter bleiben zwischen Fingern und Rahmen. Nun muss alles schnell gehen, damit die Tür nicht zugeht. Raus fahre ich rückwärts, da ich im Fahrstuhl nicht wenden kann. Ich kann nur hoffen, dass niemand im Gang steht, denn ich sehe kaum, wo ich hinfahre. Schließlich rolle ich aus dem engen Aufzug raus. Endlich geschafft.
Während ich nun einfach aufstehen kann, muss Tanja weiterhin mit den Hürden auf dem Campus kämpfen. Ich kann nicht anders, als Tanja und alle anderen Rollstuhlfahrer an der RUB für ihre Geduld und Ausdauer zu bewundern. Nach meinem Tag als Rollstuhlfahrerin nehme ich freiwillig die Treppe – und überlasse meinen Platz im Aufzug gerne denen, die jeden Tag alles geben, um pünktlich im Seminarraum anzukommen.