In zwei Quartieren der Städte Essen und Offenbach entwickelte unterschiedliche Akteure gemeinsam Strategien für die Mobilitätswende.
© Beweg dein Quartier

Innovationsaward Wissenstransfer ist keine Einbahnstraße

Beteiligung als Game-Changer: Das Projekt „Beweg dein Quartier“ zeigt, wie mit co-kreativen Ansätzen neues Wissen für die Verbesserung urbaner Lebensqualität entsteht.

Dr. Jan-Hendrik Kamlage vom Centrum für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE) der Ruhr-Universität Bochum ist sich sicher: Komplexe Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam mit der Gesellschaft begegnen. Das preisgekrönte Verbundprojekt „Beweg dein Quartier“, das gemeinsam mit dem Stadtforschungs- und Planungsinstitut urbanista umgesetzt wurde, ist nur eines seiner transformativen Forschungsprojekte, in denen klassische Akteurskonstellationen aufgebrochen werden und Mitgestaltung möglich wird – und das in den verschiedenen Bereichen der sozialökologischen Transformation. Das Projekt zeigt beispielhaft, wie vielfältig Wissenstransfer an der Ruhr-Universität Bochum umgesetzt wird. Warum die Vorstellung von linearem Transfer naiv ist und wieso es Schnittstellen zur Gesellschaft braucht, erklärt der Experte für Nachhaltigkeit und Transformation im Interview.

Herr Dr. Kamlage, mit „Beweg dein Quartier“ haben Sie ein preisgekröntes Transferprojekt entwickelt. Worum ging es in dem Projekt genau?
In „Beweg dein Quartier“ haben wir uns mit der Mobilitätswende in Städten beschäftigt. In zwei Testquartieren in den Großstädten Essen und Offenbach schufen wir neue Möglichkeitsräume, um mit den Menschen vor Ort über die Mobilität der Zukunft zu sprechen. Ziel war es, quartiersspezifische Strategien und konkrete Maßnahmen zur mittel- und langfristigen Umgestaltung der urbanen Mobilitätskultur mittels dialogorientierter Beteiligung zu entwickeln, und den CO2-Ausstoß in den Städten zu reduzieren sowie langfristig die urbane Lebensqualität zu verbessern. So sah unser Anwendungsfall aus.

Sie haben ein spannendes Transferprojekt?

Noch bis zum 4. August 2024 können sich Hochschulangehörige mit ihren Transferprojekten auf den diesjährigen QUBO – Innovationsaward der Ruhr-Universität Bochum bewerben. Mit Preisgeldern in Höhe von insgesamt 15.000 Euro prämiert das Rektorat besondere Leistungen von Einzelakteur*innen, Fakultäten, Lehrstühlen, Dezernaten, Abteilungen, Einrichtungen und studentischen Gruppierungen in den Bereichen Transfer und Entrepreneurship.

Die Preisverleihung findet am 20. November 2024 um 17 Uhr im Audimax statt.

Die Fragen der Mobilitätswende wollten Sie vor allem mit neuen und innovativen Beteiligungsansätzen gemeinsam mit den Akteuren vor Ort diskutieren. Warum ist Beteiligung wichtig?
Städtische Transformation dauert in der Regel sehr lang und ist schwierig herzustellen. Es gibt viele kleinteilige Strukturen und vielfältige Akteurskonstellationen, die sich auch nur schrittweise entwickeln lassen. Je nach Akteurskonstellation können sich außerdem Protestformationen bilden, darunter Bürgerinitiativen, Bezirksvertretungen, Medienvertreterinnen und so weiter, die gemeinsam Koalitionen des Widerstandes bilden. Damit wird das Top-Down-Vorgehen kommunaler Praxis kritisiert, in dem Entscheidungen von Parlamenten und Verwaltungen auf eine komplexere Realität treffen. Wenn Menschen die Grundannahmen für die Notwendigkeit des Wandels nicht teilen oder konkrete Lasten erwarten, kann das zu Konflikten führen. Aus Sorge vor solchen Protesten, schreitet Wandel in den Kommunen nicht in der wünschenswerten Geschwindigkeit voran. Daher nutzen wir ein Bottom-up-Vorgehen, bei dem wir verschiedene Gruppen dialogorientiert in die Entwicklung, Planung und Umsetzung miteinbeziehen, um kontextspezifische Lösungen zu erarbeiten.

Wir möchten herausfinden, wie wir möglichst offene, responsive und nach demokratischen Gesichtspunkten zu beschreibende Prozesse initialisieren können.


Jan-Hendrik Kamlage

Das ist es auch, was Ihre transformative Forschung ausmacht?
Genau. Unser Forschungsanliegen ist es, herauszufinden, wie wir möglichst offene, responsive und demokratische Prozesse initialisieren können. Diese sollen Wissen aus unterschiedlichsten Perspektiven und verschiedener Akteure zusammenbringen und zu gemeinschaftlich getragenen Ergebnissen führen. Dadurch soll der Wandel plan- und akzeptiert werden und ein Commitment der Akteure nach sich ziehen.

Welche Beteiligungsformate haben Sie in „Beweg dein Quartier“ genutzt?
Unsere Formate wollen einen Dialog auf Augenhöhe ermöglichen. Das heißt, dass wir eine allparteiliche Moderation haben, die den Prozess begleitet, gestaltet und klare, nachvollziehbare Ziele sowie eine klare Ergebnisverwendung beschreibt und mit einer Kultur der Offenheit operiert. In „Beweg dein Quartier“ haben wir beispielsweise eine Online-Befragung gemacht, an der circa 400 bis 500 Menschen teilgenommen haben. Gefragt wurde, wie die Teilnehmenden den städtischen Raum wahrnehmen. Auf digitalen Karten konnte sie Orte beschreiben, an denen sie entweder gute oder schlechte Erfahrungen gemacht haben. Das Ergebnis war eine subjektive Karte mit Räumen, an denen man mit Handlungen ansetzen kann. Im Anschluss daran haben wir dialogische Formate genutzt, um die unterschiedlichen Akteure mit der Stadtverwaltung zusammenzubringen. Die Stadtverwaltung hat vor allem den rechtlichen und den Ressourcen-Rahmen absteckt. So wurden gemeinsam Vorschläge erarbeitet und einzelne vielversprechende Ideen anschließend weiterentwickelt.

Beteiligungsprozesse nützen nichts, wenn sie nicht heterogen besetzt sind und nur einen kleinen Teil der Bevölkerung widerspiegeln.


Jan-Hendrik Kamlage

Mit welchen Herausforderungen sehen sich solche Projekte konfrontiert?
Inklusion ist ein ganz entscheidendes Thema. Was nützen uns Beteiligungsprozesse, wenn sie nicht heterogen besetzt sind und nur einen kleinen Teil der Bevölkerung widerspiegeln, der eh schon ressourcenstark ist und seine Interessen gut artikulieren kann. Dann werden Beteiligungsprozesse nur ein Verstärker für Ungleichheit. Wir haben uns deshalb Gedanken darüber gemacht, wie wir möglichst vielfältige Menschen erreichen können. So nutzen wir beispielsweise eine stark ästhetisierte Art der Kommunikation und eine Zufallsauswahl. Aber auch die direkte Ansprache war das Ziel, beispielsweise durch aufsuchende Formate wie etwa ein „Markt der Möglichkeiten“. Durch Corona mussten wir aber leider auf den digitalen Raum ausweichen, wo eine Zufallsauswahl der Beteiligten geholfen hat, die Inklusion zu verbessern.

Was sind die „Lessons Learned“ aus Ihrem Projekt?
Da gibt es sehr vielfältige Lessons Learned. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Zusammenarbeit mit Kommunen und die Förderung einer Kultur der Transformation stellt eine besondere Herausforderung dar. Eine Voraussetzung für Transformationsgeschehen ist eine Verwaltung, die die Beteiligungsprozesse als Chance versteht, etwas zu bewegen, die offen ist für den Input von außen, und die sich in einer moderierenden Rolle sieht und Entscheidungsräume abgeben kann, um die Ergebnisse dann offen zu betrachten und umzusetzen. Diese Schnittstelle zwischen Beteiligungsprozessen und der späteren Praxis muss ganz klar herausgearbeitet und bespielt werden.

Jeder, der behauptet, die Wissenschaft könne in ihren Silos weiterarbeiten, ohne die Gesellschaft um sich herum wahrzunehmen, steht meiner Meinung nach auf verlorenem Posten.


Jan-Hendrik Kamlage

Was begeistert Sie persönlich am Wissenstransfer?
Das, was viele Menschen begeistert: Einen Impact zu haben und gesellschaftlichen Wandel aktiv mitgestalten zu dürfen. Und das nie allein, sondern immer in Netzwerken. Die Idee vom linearen Transfer, bei der an der Universität geniale Ideen entstehen, die dann nur noch nach außen durch eine gescheite Kommunikation vermitteln werden müssen, stellt eine naive Vorstellung davon dar, wie Innovation in komplexen Gesellschaften funktioniert. Jeder, der behauptet, die Wissenschaft könne in ihren Silos weiterarbeiten, ohne die Gesellschaft um sich herum wahrzunehmen, steht meiner Meinung nach auf verlorenem Posten. Wir brauchen Universitäten, die beides können: nicht nur exzellente, einzeldisziplinäre Forschung, sondern auch gesellschaftliche Relevanz entwickeln. Universitäten müssen geeignete Schnittstellen zu den Innovationsökosystemen und Communities herstellen und sich darin vernetzen.

Die Universitäten müssen sich vielmehr in Richtung „One Mission“ entwickeln und Transfer integriert betrachten.


Jan-Hendrik Kamlage

Transfer gilt als dritte Kernaufgabe von Universitäten. Dennoch ist Transfer nicht so selbstverständlich wie Forschung und Lehre. Können Sie sich das erklären?
Transfer wird immer stärker gefördert, vor allem aber in Form der Wissenschaftskommunikation. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass Gründungen den Haupttransferbereich darstellen. Beides sind aber nur Teile des Transfers, über die Schnittstellen zur Gesellschaft geschaffen werden.

Analytisch wird Transfer von den anderen Kernaufgaben abgetrennt. Ich glaube aber, dass die Universitäten sich vielmehr in Richtung „One Mission“ entwickeln und Transfer integriert betrachten sollten. Nachhaltigkeitsprobleme sind zum Beispiel nur interdisziplinär verstehbar. Man kann sie nicht einzeldisziplinär bearbeiten, gerade wenn komplexe gesellschaftliche Konstellationen vorliegen. Dafür brauchen wir transdisziplinäre Forschung. Das Lernen anhand praktischer Beispiele und komplexer Herausforderungen aus der Realität ist motivierend und gestaltet das Lernen interaktiver und prozessorientierter.

Jan-Hendrik Kamlage ist Experte für Nachhaltigkeit, Transformation und Partizipation. Er hat das Projekt „Beweg dein Quartier“ geleitet.
© RUB, Marquard

Transdisziplinäre Forschung scheint vielversprechend, stellt Forschende jedoch auch vor neue Anforderungen.
Ja. Forschende werden an den Universitäten immer noch in „disziplinären Silos“ geschult. Hier leisten sie natürlich große Fortschritte in der jeweiligen Disziplin. Transformative Forschung funktioniert allerdings ganz anders: Sie ist in der Regel inter- und transdisziplinär, das heißt man arbeitet mit Akteuren innerhalb und außerhalb der Universität vertrauensvoll und auf Augenhöhe zusammen. Es herrscht eine Kultur der Offenheit für unterschiedliche Perspektiven. Die Forschung setzt Impulse für gesellschaftliche Veränderungen und kommt mit der Komplexität des Umfeldes zurecht. Dabei müssen Forschende agil bleiben und gemeinsam mit den anderen Akteuren Lernprozesse durchlaufen. Das ist ein vielschichtiges Profil, das man nicht mal eben so lernt.

Wir brauchen eine Arbeitsteilung, sodass die Schnittstellen zur Gesellschaft dauerhaft bespielt werden können.


Jan-Hendrik Kamlage

Was schlagen Sie also vor?
Ich glaube, wir brauchen eine Arbeitsteilung, sodass die Schnittstellen zur Gesellschaft dauerhaft bespielt werden können. Auf der einen Seite brauchen wir Menschen, die diese Forschung gut können, die in Netzwerken operieren und entsprechende kommunikative Fähigkeiten besitzen. Auf der anderen Seite brauchen wir diejenigen, die sehr stark analytisch arbeiten können und in ihrer Einzeldisziplin hervorragend sind. So wird auch eine synergistische Zusammenarbeit zwischen transformativer und normaler Wissenschaft möglich.

Ihr Tipp: Wie fängt man ein Transferprojekt an?
Mein ehrlich gemeinter Tipp: Sich zuallererst in Beteiligungsprozessen schulen. Sich als Facilitator einer offenen Diskussion verstehen statt als zielorientierter Moderator. Das ist eine gute Basis, um Beteilung und so auch Transfer zu ermöglichen, denn das eine kann nicht ohne das andere funktionieren.

Zur Person

Jan-Hendrik Kamlage, promovierter Politikwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Centrums für Umweltmanagement, Ressourcen und Energie (CURE) und leitet die Forschungsgruppe Beteiligung & Transformation an der Ruhr-Universität Bochum. Sein wissenschaftliches Wirken konzentriert sich auf Demokratie- und Beteiligungsforschung sowie die Untersuchung der sozial-ökologischen Transformation. Er ist anerkannter Experte für die Konzeption, Umsetzung und Evaluation von dialogorientierten Beteiligungsverfahren und hat weitreichende Erfahrungen in der transformativen Forschung.

In seiner Karriere war Herr Kamlage auch als Mitarbeiter einer Parlamentsfraktion in der Bremischen Bürgerschaft tätig, diente als Referent von Prof. Dr. Claus Leggewie im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und hat umfassende Erfahrung als Redner, Moderator auf Konferenzen und als Politikberater. Zurzeit ist er Gastprofessor für „Governance der Nachhaltigkeitstransformation“ an der Hochschule Rhein-Waal.

Online-Sprechstunde zur QUBO-Bewerbung

Für alle potenziellen Bewerberinnen und Bewerber bietet Valerie Seela von der WORLDFACTORY eine Online-Sprechstunde an. Eine Voranmeldung ist nicht notwendig und spontane, ungezwungene Zuschaltungen sind ausdrücklich erwünscht.

Die Sprechstunde findet über Zoom zu folgenden Zeiten sowie nach Vereinbarung statt:

  • Dienstag, 30. Juli, 13 bis 13.30 Uhr

Veröffentlicht

Dienstag
23. Juli 2024
09:29 Uhr

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