Sprache Was Schilder über das Leben in Metropolen verraten
Ladenbeschriftungen, offizielle Beschilderungen und Graffitis verraten uns etwas über den Mix der Nationalitäten in einem Stadtteil. Oder doch nicht?
Auf offiziellen Schildern finden wir wichtige Informationen oft in verschiedenen Sprachen geschrieben, und das kann nützliche Orientierung bieten. Aber längst nicht alle öffentlichen Orte sind in Deutschland mehrsprachig beschildert, und wenn, sind sie natürlich auch nicht für Menschen aller Nationalitäten verständlich. Wonach sich die Auswahl der Schildersprachen richtet, hat ein Team der Universität-Duisburg Essen und der Ruhr-Universität Bochum in dem Projekt „Metropolenzeichen: Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr“ untersucht.
Dabei ging es aber nicht nur um offizielle Schilder. Die Forscherinnen und Forscher interessierten sich vielmehr für jegliches schriftliche Material, das sie im öffentlichen Raum fanden, seien es Verbotsschilder, Ladenbeschriftungen, Plakate, Sticker, Graffitis oder Straßenschilder. Mehr als drei Jahre lang kartierten und analysierten sie die schriftsprachliche Landschaft im Ruhrgebiet und untersuchten, wie diese mit der Bevölkerungsstruktur und Migrationsgeschichte zusammenhängt.
Auf beiden Seiten des Sozialäquators
Das Projektteam wählte acht Stadtteile in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund aus, jeweils einen nördlich der Autobahn 40 und einen südlich davon. Die Hauptverkehrsader des Ruhrgebiets gilt als eine Art Sozialäquator, der ärmere Viertel im Norden von wohlhabenderen im Süden trennt. In Bochum flossen Daten aus Hamme und Langendreer in die Analyse ein, in Essen aus Altendorf und Rüttenscheid, in Duisburg untersuchten die Forscher Marxloh und die Innenstadt und in Dortmund die Nordstadt und das Viertel Hörde.
Die Bochumer Sozialwissenschaftler um Dr. David Gehne vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung, kurz Zefir, analysierten anhand von amtlichen Statistiken die Bevölkerungsstruktur der ausgewählten Viertel. Außerdem fotografierte das Team um die Duisburg-Essener Linguistin und Projektleiterin Prof. Dr. Evelyn Ziegler dort über 25.500 Schilder in Einkaufsstraßen, an Bahnhöfen, kulturellen Einrichtungen und Behörden. Alle Fotos wurden georeferenziert, konnten also einem genauen Standort zugeordnet und kartiert werden.
Anhand der Bilder bestimmten die Sprachwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, welche Sprachen in den verschiedenen Stadtteilen wie häufig sichtbar waren, in welcher Form sie vorkamen und für welche Zwecke sie verwendet wurden. Dafür wurden alle 25.500 Fotodaten in eine Datenbank importiert und nach Kategorien eingeteilt, zum Beispiel in kommerzielle, infrastrukturelle, regulatorische und kommemorative Schildertypen wie etwa Gedenktafeln.
Am meisten Deutsch
Duisburg-Marxloh war der am stärksten migrationsgeprägte Stadtteil in der Analyse. „Bei einer solchen Bevölkerungszusammensetzung sprechen wir in der Forschung von einer sehr ausgeprägten Diversität“, erklärt David Gehne. Nur 27 Prozent der Marxloher besitzen ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit, fast die Hälfte sind Nicht-Deutsche, der Rest hat zwei Pässe. Auch die Dortmunder Nordstadt weist mit 43 Prozent einen hohen Anteil von Nicht-Deutschen auf. Essen-Rüttenscheid hingegen bringt es auf gerade einmal 8,7 Prozent. Dennoch haben alle untersuchten Stadtteile eins gemein: Deutsch ist die sichtbarste Sprache. Selbst in Marxloh waren 60 Prozent der fotografierten Schilder auf Deutsch verfasst, am zweithäufigsten kam Türkisch vor.
Den Grund dafür sehen die Forscher auch in der Einzelhandelsstruktur. „Eine Besonderheit in Marxloh ist die türkische Hochzeitsmeile, die auch Kundschaft aus dem benachbarten Ausland anzieht“, sagt Gehne. „Daher gibt es sehr viel sichtbares Türkisch, oft aber auch in Kombination mit Deutsch oder Englisch.“ Um herauszufinden, wie die Kunden mehrsprachige Schilder beurteilen, führten die Linguisten Vor-Ort-Interviews mit Passanten durch. Dabei zeigte sich, dass eine deutliche Mehrheit der Befragten ein mehrsprachiges Sprachenmanagement befürwortet. Dies gilt insbesondere für die Befragten, die einen Migrationshintergrund haben und nördlich der A40 leben. Demgegenüber fielen die Einstellungen der Befragten mit Migrationshintergrund, die in den südlich der A40 gelegenen Stadtteilen leben, zurückhaltender aus. Hier gleichen sich die Einstellungen der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund an.
Die Linguisten führten auch Interviews mit Ladenbesitzern, um die Beweggründe herauszufinden, mit denen diese ein Schild in einer bestimmten Sprache verfasst hatten. Die Antworten ließen auf eine Mischung aus Sprachkompetenz, Identität und Funktionalität schließen. Welche Sprachen ausgewählt werden, hat also auch damit zu tun, welche Sprachen man beherrscht, mit welcher Sprache man identifiziert werden möchte und welche Kunden angesprochen werden sollen.
Polen bleiben unter dem Radar
Da diese Kunden nicht immer in dem Viertel wohnen, in dem sie einkaufen, findet sich nicht notwendigerweise ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit einer Sprache und der Größe einer bestimmten ethnischen Gruppe in einem Stadtteil. „Bezogen auf das Türkische funktioniert diese Je-mehr-desto-mehr-Logik ansatzweise“, fasst Gehne zusammen. Wo mehr Türken leben, finden sich in der Regel auch mehr türkische Beschriftungen im öffentlichen Raum.
Auf andere Bevölkerungsgruppen, etwa Polen, trifft dieses Prinzip aber nicht zu. Oft sind sie die zweitgrößte Gruppe an Nicht-Deutschen in einem Viertel, dennoch finden sich wenig polnische Beschriftungen. Die Gründe dafür sehen die Wissenschaftler darin, dass diese Gruppe bereits stärker integriert ist und sich in ihren Einstellungen an den Werten der Mehrheitsgesellschaft orientiert. Darauf deuten die Interviews der Sprachwissenschaftler mit polnischstämmigen Besitzern von Geschäften hin, die sie in Essen-Altendorf führten.
Ein Zusammenhang zwischen sichtbarer Mehrsprachigkeit und Diversität in der Bevölkerungszusammensetzung liegt also nicht immer auf der Hand, sondern muss differenziert betrachtet werden. Englisch ist im Mittel über die acht untersuchten Stadtteile hinweg die zweithäufigste gefundene Sprache gewesen; sie war auf 19,6 Prozent aller Schilder vertreten. Mit 4,4 Prozent lag Türkisch weit dahinter. Gehne: „Das sagt natürlich nichts darüber, wie viele Angelsachsen im Ruhrgebiet leben.“
Es dominiert die Ideologie der Einsprachigkeit.
David Gehne
Als weithin verstandene Sprache wird Englisch auf offiziellen Beschilderungen gern verwendet. Allerdings gibt es keinen einheitlichen Umgang damit. An großen Bahnhöfen ist in der Regel mehrsprachig in Deutsch, Englisch und Französisch ausgeschildert, die Deutsche Bahn hat ein Regelwerk dafür. In Bürgerbüros im Ruhrgebiet hingegen finden sich ausschließlich deutsche Beschriftungen, obwohl nachweislich viele Nicht-Deutsche die Angebote in Anspruch nehmen.
„Da spiegelt sich die Sprachpolitik der Städte wider: Jeder muss Deutsch können. Es dominiert die Ideologie der Einsprachigkeit“, sagt Gehne und verweist darauf, dass Mehrsprachigkeit in anderen Ländern oft mehr wertgeschätzt werde als in Deutschland. Unterhalb der offiziellen politischen Ebene wird jedoch durchaus pragmatisch gehandelt: Auch in Bürgerbüros gibt es etwa mehrsprachige Broschüren.
Solchen Pragmatismus beobachteten die Forscher auch bei regionalen Verkehrsbetrieben im Ruhrgebiet. „Sie handeln nach dem Motto: Wer Tickets verkaufen will, muss auch kommunizieren“, beschreibt Gehne. Das Fahrkartensystem wird in mehreren Sprachen, vorzugsweise auf Deutsch, Englisch und Türkisch erklärt. Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr hat eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Thema befasst. Sie setzt auf Informationen aus dem Alltag: Busfahrer und Kontrolleure melden zurück, welche Sprachen ihrer Meinung nach erforderlich sind. Das ändert sich ständig – und bringt die Forscher auf Ideen für weitere Studien.
Sichtbarkeit braucht Zeit
Die Daten für das Metropolenzeichen-Projekt wurden im Jahr 2013 aufgenommen. Spannend fänden es die Linguisten und Sozialwissenschaftler aber auch, Veränderungen zu dokumentieren und zu analysieren. „Interessant wäre es, die Migrationsgeschichte noch stärker mit einzubeziehen“, meint David Gehne und hat ein Beispiel parat: Im Ruhrgebiet gibt es relativ große Gruppen von Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Aber 2013 waren recht wenige bulgarische und rumänische Schilder zu finden. Der vermutete Grund: „Diese Gruppen waren noch nicht so lange vor Ort. Drei, vier Jahre dauert es, bis sie sichtbar werden“, so der Forscher.
Oft zeigten sich neue Nationalitäten, wenn sie Restaurants, Kioske und Geschäfte eröffnet hätten. Aber dafür müssen die Menschen erst einmal ein freies Ladenlokal finden und ein Gewerbe gründen. „Wir beobachten nicht, dass eine Gruppe einen Raum völlig dominiert, sondern in der Regel gibt es eine sehr individuelle, vielfältige Sprachlandschaft in Stadtteilen“, sagt Gehne. Die Wissenschaftler wollen in Zukunft stärker dazu forschen, wie man in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft zusammenlebt – und auch, welche Chancen Vielfalt bietet.