Die in New York lebenden ethnischen Gruppen haben sich auf ganz unterschiedliche Weise in die Stadt eingeschrieben.
© Roberto Schirdewahn

Amerika Städte im Wandel

Nicht nur Gebäude, Straßen und Läden verändern sich im Lauf der Zeit, auch die Menschen, ihr Identitätsgefühl und ihre urbanen Vorstellungen und Träume.

New York. Die Stadt, die niemals schläft. Eine pulsierende Metropole mit schillernden Hochhausfassaden und scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, häufig Schmelztiegel der Nationen genannt, ein Sehnsuchtsort. Kaum ein Mensch, der kein Bild vor Augen hat, wenn er an Big Apple denkt. In New York zu leben oder zu arbeiten war und ist für viele ein Traum. Die Realität entspricht allerdings nicht immer dem, was in Vorstellungen und Fiktionen transportiert wird.

Wie entwickeln sich imaginäre Bilder von Städten? Wie werden sie beeinflusst von dem immerwährenden Wandel der urbanen Räume? Und wie wirken Vorstellungen und Geschichten auf Stadtwandel und Stadtplanung zurück?

Mit diesen Fragen beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der drei Ruhrgebietsuniversitäten im 2010 gegründeten Ruhr Center of American Studies. Sie erforschen Transnationalität und Multiethnizität der US-amerikanischen Geschichte, Literatur und Kultur sowie deren globale Einbettung und Vernetzung. Das Center beinhaltet ein interdisziplinäres Graduiertenprogramm sowie ein Postdoc-Forum, und es fördert Forschungskooperationen auf unterschiedlichen Ebenen.

Kornelia Freitag und Michael Wala kooperieren mit Kolleginnen und Kollegen der Universitäten in Dortmund und Duisburg-Essen im Ruhr Center of American Studies.
© RUB, Marquard

Von 2012 bis 2015 lief das Projekt „Urban Transformations in the USA – Spaces, Communities, Representations“, gefördert vom Mercator Research Center Ruhr. Es beleuchtete den urbanen Wandel in US-amerikanischen Städten aus Sicht der Literatur- und Kulturwissenschaft, aus historischer Perspektive und eingebettet in den Kontext von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Ergebnisse sind nicht nur in einer Reihe von Dissertationen dokumentiert, sondern auch in einem Sammelband erschienen.

Das Forscherteam um Prof. Dr. Walter Grünzweig und Dr. Julia Sattler, Technische Universität Dortmund, sowie Prof. Dr. Jens Gurr, Universität Duisburg-Essen, untersuchte, wie sich Veränderungsprozesse in US-amerikanischen Städten im 20. und frühen 21. Jahrhundert niederschlugen – in Stadtplänen oder in Vorschriften für die städtische Hygiene, in Zeitungsberichten, Rechtsurteilen und in Einwandererbriefen sowie in historischen Romanen. Selbst die Struktur von Museen und anderen Erinnerungsräumen analysierten sie. Als Quellen dienten private ebenso wie offizielle Dokumente, historische Überlieferungen wurden ebenso betrachtet wie zeitgenössische Texte.

Chinatown als Lebensraum

Urbane Transformationsprozesse lassen sich zum Beispiel anhand von Chinatowns nachvollziehen, von denen sich die wohl bekanntesten in New York und San Francisco befinden. Aber auch in vielen anderen US-amerikanischen Städten existieren sie. In ihrer Doktorarbeit an der Ruhr-Universität Bochum analysierte Selma Siew Li Bidlingmaier, wie vielfältig und kontrovers diese Orte in der Literatur beschrieben werden.

Es waren typische Ghettos.


Kornelia Freitag

Im 19. Jahrhundert kamen Chinesen in großer Zahl nach Amerika, angezogen vom Goldrausch oder um beim Bau der „Central Pacific Railroad“ Geld zu verdienen. Historisch gesehen waren Chinatowns zunächst als Ausschlussraum gedacht, und genauso funktionierten sie auch. „Es waren typische Ghettos, mit denen sich das weiße städtische Amerika die eigentlich als Arbeitskräfte willkommenen Chinesen vom Hals geschafft hat“, erklärt die Bochumer Amerikanistin Prof. Dr. Kornelia Freitag, die die Dissertation betreute. Chinesen, die nach New York kamen, hatten praktisch keine andere Wahl, als in Chinatown zu leben, und nur dort konnten sie Geschäfte eröffnen.

Es gab zwar keinen Grenzzaun zwischen Chinatown und dem Rest der Stadt, aber die Behörden und die Polizei schotteten den Bezirk mit unterschiedlichen Methoden ab. So wurde Chinatown kriminalisiert und als weniger beziehungsweise nicht zivilisierter Raum markiert. Nicht nur in Stadtplänen und Regularien, sondern auch in vielen literarischen Texten wurde die kulturelle Andersartigkeit dieser Bezirke betont. Das erzeugte gleichzeitig eine starke Anziehungskraft.

Die exotische Ausstrahlung der Chinatowns hat westlich geprägte Menschen schon im 19. Jahrhundert fasziniert. Auch heute noch sind sie Anziehungspunkt für Touristen.
© Gemeinfrei

Die weiße Literatur mystifizierte die Chinatowns als Orte der geheimen Gelüste, wo der exotische Orient mitten in den USA erlebbar wurde. So wurden die Bezirke zu Vergnügungsorten, die Leute von außerhalb anzogen. Obwohl sie als Ghettos gedacht waren, und zweifellos auch als solche funktionierten, wies Bidlingmaier nach, dass sich in Chinatowns eine Kultur entfaltete, die lange Zeit in der Forschung unterschätzt wurde. Ihr Fazit: Heute, in einer Zeit, in der viele Chinoamerikaner längst außerhalb der Chinatowns leben, sollten ihre Vorfahren nicht länger nur als Opfer weißer Segregation, sondern auch als Schöpfer ihrer eigenen Kultur begriffen werden, deren Wurzeln auch in Chinatown liegen.

Sklaven in New York

Dass ihre Wurzeln nicht in Vergessenheit gerieten, dafür sorgte in New York auch die afroamerikanische Gemeinde. Afrikaner und Sklaverei werden gemeinhin eher mit den ehemaligen Südstaaten in Verbindung gebracht, weniger mit Nordstaaten wie New York. Und dennoch: Zentrale Gebiete der Stadt wurden erstmals von afrikanischen Sklavinnen und Sklaven bebaut und bewohnt. Ein verschollenes Relikt dieser Zeit tauchte 1991 während der Arbeiten für ein Bürohochhaus in Lower Manhattan auf: ein Friedhof. Zugehöriges Kartenmaterial belegte unmissverständlich, dass es sich um eine afrikanische Begräbnisstätte gehandelt hatte.

„Eigentlich sollte die Stelle sofort wieder zugeschüttet werden, weil der Bau des geplanten Gebäudes weitergehen sollte und Baugrund in Manhattan teuer ist“, erzählt Freitag. Aber die afroamerikanische Gemeinde wehrte sich, gemeinsam mit vielen anderen geschichtsbewussten New Yorkern, die sich mit ihnen verbündeten.

Diese Initiative bewirkte, dass vor dem Bau des Gebäudes Ausgrabungen erfolgen konnten und der Friedhof sorgfältig kartiert werden konnte. Ein kleiner Teil des Areals ist bis heute unbebaut geblieben. Dort entstand ein Denkmal, das nun an einen Ort erinnert, der früher als verschollen und nicht besonders wichtig galt. Mit diesem African Burial Ground National Museum sowie anderen afroamerikanischen Erinnerungsräumen in New York befasste sich Doktorandin Tazalika te Reh während ihrer Promotion im Ruhr Center of American Studies, betreut von Prof. Dr. Randi Gunzenhäuser, Technische Universität Dortmund.

Es gab sogar ein Little Germany.


Michael Wala

Eine weitere Arbeit, die von Prof. Dr. Josef Raab, Universität Duisburg-Essen, betreute Dissertation von Insa Neumann, beschäftigte sich mit der deutsch-amerikanischen Einwanderungsgeschichte. Im New York des 19. Jahrhunderts hatte sich die deutsche Gemeinschaft etabliert. „Es gab sogar ein Little Germany“, erinnert der Bochumer Historiker Prof. Dr. Michael Wala, Zweitbetreuer der Promotion. „Das alles änderte sich durch die Weltkriege. Schon ab 1917 wurde es für Deutschamerikaner schwer, im öffentlichen Raum präsent zu sein“, sagt Wala.

In ihrer Doktorarbeit untersuchte Insa Neumann, wie es den Deutschen dennoch gelang, ihre Identität als Amerikaner mit deutschen Wurzeln auf gewissen Ebenen zu erhalten. Sie nahm zum Beispiel die späten 1940er- und die 1950er-Jahre in den Blick.

Gemeinsame Rituale

In den Nachkriegsjahren gab es in New York nicht die eine deutsche Gemeinde, sondern vereinzelte deutsche Gruppen. Ihre Identität zeigte sich dabei nicht so sehr in abgegrenzten Räumen, sondern in bestimmten gemeinsamen Ritualen. Neumann identifizierte drei Kategorien von Gelegenheiten, bei denen sie an ihr „Deutschtum“ erinnerten: private Anlässe wie das Familienessen, bei dem – anders als in der Öffentlichkeit – Deutsch gesprochen wurde; halb-öffentliche Anlässe wie Kirchenmessen oder Treffen im Gesangsverein; und öffentliche Anlässe wie den „German Day“, zu dem zahlreiche Vereine sich für einen Umzug mit Fahnen und Bannern durch New York trafen, oder die erstmals 1957 stattfindende Steuben-Parade, ebenfalls ein öffentlicher Festumzug der Deutsch-Amerikaner. Letztere war benannt nach General Friedrich Wilhelm von Steuben, einem preußischen Offizier, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zum Held geworden war.

Die deutsch-amerikanische Identität wurde zwar nach den Weltkriegen nie wieder so sichtbar, wie es 70 bis 80 Jahre zuvor gewesen war. Aber sie blieb trotz der beiden Weltkriege erhalten, wurde wiederbelebt und trug zu der steigenden Diversität und zum sozial und wirtschaftlich motivierten Wandel in New York City bei.

Vorschreiben, beschreiben, einschreiben

Die Stadtpolitik von Los Angeles nach den gewalttätigen Unruhen in der Stadt im Jahr 1992 untersuchte die Bochumer Forscherin Kathrin Muschalik, und die globale Wirkung und Verstrickung US-amerikanischer Stadtentwicklung beleuchteten Erika Mikós in Dortmund und Utku Mogultay in Duisburg-Essen. Aus den Ergebnissen dieser Teilprojekte kristallisierte sich die Idee für ein Anschlussprojekt heraus, das die nächste Generation von Doktorandinnen und Doktoranden im Ruhr Center of American Studies bearbeiten wird. Zentral dabei wird der Begriff der „City Scripts“ sein.

Wie konstruieren Texte die Stadt, und wie generiert die Stadt Texte?


Kornelia Freitag

„Es geht um das Vorschreiben von Regeln, das Einschreiben – zum Beispiel einer ethnischen Gemeinde – in eine Stadt, das Schreiben von Plänen oder die Beschreibung, wie eine Stadt aussieht“, erklärt Wala den Begriff des Scripts. Während das Vorgängerprojekt „Urban Transformations“ vornehmlich untersuchte, wie Städte und ihre Veränderungen in Texten repräsentiert sind, so steht jetzt im Mittelpunkt, wie Scripts auf die reale Stadtentwicklung wirken und in dieser funktionieren. Die zentralen Fragen sind: „Wie konstruieren Texte die Stadt, und wie generiert die Stadt Texte?“, so Freitag. Dabei wollen die Amerikanistinnen und Amerikanisten nicht nur auf US-amerikanische Städte blicken, sondern auch Parallelen zu Deutschland ziehen.

Das neue von Prof. Dr. Barbara Buchenau (Universität Duisburg-Essen) geleitete Projekt bietet den Doktoranden eine Promotion mit Mehrwert. Es bezieht nicht nur internationale Experten in die Betreuung der Doktorarbeiten mit ein, sondern sieht auch eine bis zu einjährige Praxisphase für die Promovierenden vor, zum Beispiel in Stadtplanungsbüros. So sollen die wissenschaftlichen Recherchen und Erkenntnisse direkt in die Praxis einfließen.

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Veröffentlicht

Donnerstag
05. Oktober 2017
09:57 Uhr

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 2. November 2017 in Rubin 2/2017 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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