Deutsche Geschichte Wie ein Blick in die Zukunft viel über die Vergangenheit erzählen kann

Zukunftsromane aus den 1920er- und 1930er-Jahren geben einen Einblick in das damalige Lebensgefühl der Deutschen. Viele sahen in einem neuen Krieg die einzige Chance auf eine bessere Zukunft.

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist in ganz Europa, vor allem aber in Deutschland, eine Zeit von besonders prägnanten und intensiven Ereignissen. Hyperinflation als Folge des Ersten Weltkriegs, Weltwirtschaftskrise, Gründung der Weimarer Republik, Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Aber auch die goldenen Zwanziger zwischen 1924 und 1929 mit zwischenzeitlichem Wirtschaftsaufschwung und einer Blütezeit der deutschen Kunst, Kultur und Wissenschaft – all dies beeinflusste das Leben der Menschen zwischen 1918 und 1939.

Ihr Ende fand diese Phase der deutschen und europäischen Geschichte mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – der damals, so Dr. habil. Kristin Platt vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung der RUB, für einen Großteil der Bevölkerung unausweichlich schien. Doch wie kam es dazu? Um herauszufinden, wie die Menschen in der Vergangenheit dachten, und was sie beschäftigte, blickt die Sozialpsychologin in die Zukunft – in die Zukunft, die sich die Menschen damals in Science-Fiction-Büchern vorgestellt haben.

Kristin Platt tut das jedoch nicht alleine. Zusammen mit Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans leitet sie eine zehnköpfige Projektgruppe, die zu deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er- und 1930er-Jahre forscht. Die Mitglieder kommen aus den Bereichen Komparatistik, Germanistik, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie Sozialpsychologie.

Monika Schmitz-Emans (links) leitet zusammen mit Kristin Platt die zehnköpfige Projektgruppe, die zu deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er- und 1930er-Jahre forscht.
© Roberto Schirdewahn

„Zukunftsromane, wie sie im späten 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden sind, unterliegen den prägenden Einflüssen ihrer Zeit“, erklärt Monika Schmitz-Emans, wieso sich ein Blick in diese spezielle Literaturgattung lohnt, um die Vergangenheit besser verstehen zu können. „Die Vergangenheit bietet Anlass, Ähnliches von der Zukunft zu erwarten. Nämlich gravierende und kontinuierliche Veränderungen der Welt, ihrer Bewohner sowie deren Lebensformen“, so die Expertin für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft.

Ziemlich schräge Literatur

Eher zufällig stieß Kristin Platt auf die Zukunftsromane. Sie erweckten ihr Interesse. „Weil sie ziemlich schräg sind“, erklärt Platt. „Uns begegnen Wunderwaffen, Überschallflugzeuge, Marsbewohner, biotechnisch veränderte Menschen und Weltkriege. Fast immer kommt ein Ingenieur vor, der der Held der Geschichte ist. Im Gegensatz zu den zögernden Politikern nimmt er die Dinge in die Hand. Er entwickelt Raumschiffe und Wunderwaffen und führt Deutschland aus dem Vakuum heraus, das nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist. Gerne heißt er Karl oder Klaus und wird von einer schutzbedürftigen Frau angebetet, die er dann heiratet – an der Stelle stößt die eher abgedrehte Science-Fiction auf ein ganz traditionelles und teilweise sogar für diese Zeit rückständiges Geschlechterbild“, so Platt.

In den Büchern, darunter unter anderem der große Roman „Berge Meere und Giganten“ von Alfred Döblin und Werke von Hans Dominik, verbinden die Autoren technische Neuerungen mit Bevölkerungsfragen, Landfragen und der Idee der Gestaltung eines neuen Menschen. Besonders interessieren sich die Mitglieder der Projektgruppe für die politischen Bilder in den Romanen.

Die politische Öffentlichkeit hat sich in den 1920er-Jahren in Deutschland stark verändert.


Kristin Platt

„Uns hat überrascht, dass die Texte sehr deutlich zeigen, wie sich die politische Öffentlichkeit in den 1920er-Jahren in Deutschland verändert hat“, erzählt Kristin Platt. Die Zukunft beschäftigte die Menschen anscheinend sehr. Sie fragten nicht nur nach der Zukunft des Wissens und nach neuen technischen Möglichkeiten, sondern, so Kristin Platt, besonders nachhaltig nach der Zukunft der folgenden Generationen.

„Der Raum für gesellschaftliche Fragen veränderte sich in den 1920er-Jahren deutlich. Vor allem wurde er öffentlich. Menschen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und politischer Lager diskutierten darüber. Dieses Reden über Zukunft führte dabei oftmals direkt zu der Idee, dass sie nur erreicht werden kann, wenn einer – nahezu immer ist dies ein Mann – die Entscheidung in die Hand nimmt und einen Bruch herbeiführt. Ganz radikal wird in den Büchern thematisiert, dass eine Zukunft nur durch einen Krieg erreicht werden kann. Das hat uns schon überrascht“, so Kristin Platt.

Viele Bücher wurden im Krieg zerstört

Schnell wurde ihr bei ihrer Recherche klar, dass bisher nur wenig zu diesen Büchern geforscht worden war. Um das zu ändern, rief sie die Arbeitsgruppe ins Leben. Zunächst machten sich deren Mitglieder auf die Suche nach weiteren Büchern. Sie sahen, dass es sich keineswegs um wenige einzelne Romane handelte. „Das gesamte Korpus, das wir zusammenstellen konnten, enthält 450 bis 500 zentrale Werke“, so Platt. Die Autoren kommen sowohl aus dem rechten wie auch dem linken Lager.

Die Bücher zu finden war eine Herausforderung für sich, denn obwohl sie in den 1920er- und 30er-Jahren in großer Auflage erschienen, findet man sie heute nur noch schwerlich. „Es sind allesamt Populärbücher, die nicht in Universitätsbibliotheken stehen“, erklärt Kristin Platt. Zudem sind im Krieg viele Bücher zerstört worden oder verloren gegangen. Und nicht zuletzt – das hat die Mitglieder der Arbeitsgruppe überrascht – gehören auch jüdische Schriftsteller zu den Autoren. Ihre Werke wurden unter den Nazis aus den meisten Bibliotheken verbannt und zerstört.

Bei ihren Treffen beschäftigen sich die Mitglieder der Projektgruppe jeden Monat mit einem anderen Aspekt der Zukunftsromane. Von links: Kristin Platt, Monika Schmitz Emans, Medardus Brehl, Lasse Wichert, Fynn-Adrian Richter, Anna-Lena Rehmer
© Roberto Schirdewahn

Damit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit auch nach der Projektphase von den Erkenntnissen der Bochumer Gruppe profitieren können, beantragte die Arbeitsgruppe eine Korpusstudie bei ihrem Förderer, der Fritz-Thyssen-Stiftung. Das heißt, sie nehmen die Bücher systematisch auf, schreiben Zusammenfassungen und versuchen, die Auflagenstärke und das Schicksal des Autors zu rekonstruieren.

Dabei zeigte sich, dass einige der Romane oder auch Kurzgeschichten der Autoren sogar in Werks- und Fachzeitschriften wie der Zeitung des Vereins für Raumschifffahrt besprochen beziehungsweise in Auszügen abgedruckt worden waren. Obwohl die Geschichten allesamt fiktiv sind, interessierte sich sogar die Fachwelt für die Ideen der Autoren.

Die Mitglieder der Projektgruppe arbeiten intensiv an den Büchern – man sieht es an den vielen Haftzetteln an diesem Exemplar.
© Roberto Schirdewahn

Dass sich heute die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Bochumer Projektgruppe intensiv mit den Texten auseinandersetzen, ist nicht ganz selbstverständlich. „Historiker könnten sagen, dass es sich ja nur um Literatur handelt“, so Kristin Platt. „Das stimmt natürlich. Dennoch gibt sie uns Einblick in die Gedankenwelt der Menschen, die damals gelebt haben. Wir erfahren viel darüber, wie die Stimmung und das Lebensgefühl damals im Land waren. Beim Lesen der Romane wird offensichtlich, dass die Menschen das Gefühl hatten, nach dem Ersten Weltkrieg etwas wiederhaben zu wollen. Sie empfanden einen politischen Stillstand, fühlten sich nicht mehr als Teil der weltpolitischen Entwicklung.“ So interessiert die Projektgruppe nicht zuletzt, dass die Texte zeigen, wie der Nationalsozialismus versuchte, eine Antwort gerade für diese Empfindungen zu geben. Aber auch, wie sicher ein neuer Krieg erwartet worden ist.

Die Mitglieder der Projektgruppe

Das Forschungsprojekt trägt den Titel „Der verdichtete Raum. Sprache, Text und weltanschauliches Wissen in deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er- und 1930er-Jahre“. Mitglieder der Forschungsgruppe sind:

  • Dr. habil. Monika Bednarczuk, Literaturwissenschaft, Universität Bialystok
  • Dr. Medardus Brehl, Institut für Diaspora- und Genozidforschung, RUB
  • Prof. Dr. Mihran Dabag, Institut für Diaspora- und Genozidforschung, RUB
  • Prof. Dr. Peter Goßens, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, RUB
  • Prof. Dr. Lucian Hölscher, Geschichtswissenschaft, RUB
  • Dr. habil. Kristin Platt, Institut für Diaspora- und Genozidforschung, RUB
  • Anna-Lena Rehmer, Doktorandin im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und wissenschaftliche Mitarbeiterin, RUB
  • Fynn-Adrian Richter, Doktorand im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Bochumer Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische“, RUB
  • Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, RUB
  • Dr. Lasse Wichert, Institut für Diaspora- und Genozidforschung, RUB

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Veröffentlicht

Montag
07. Oktober 2019
09:23 Uhr

Von

Raffaela Römer

Dieser Artikel ist am 4. November 2019 in Rubin 2/2019 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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