Im Universum gibt es unvorstellbar viele Objekte. Kosmologen versuchen, sie alle zu wiegen.
© ESO/T. Preibisch

Kosmologie Wie viel wiegt das Universum?

Neue Ergebnisse von Bochumer Physikern bringen das Standardmodell der Kosmologie ins Wanken.

„Seit Urzeiten gucken Leute an den Himmel und versuchen zu verstehen, wie viel Sterne, Planeten, Galaxien und andere Objekte wiegen“, erzählt Prof. Dr. Hendrik Hildebrandt, Heisenbergprofessor und Leiter der Arbeitsgruppe für Beobachtende Kosmologie der RUB. Auch er arbeitet mit seinem Team an dieser Frage. Genauer gesagt interessiert sich die Gruppe nicht nur dafür, wie viel Masse im Universum vorhanden ist, sondern auch für deren Struktur, also ob die Masse gleichmäßig im Raum verteilt ist oder in Klumpen vorliegt.

Um Objekte am Himmel zu wiegen, bedienen sich die Kosmologen des sogenannten Gravitationslinseneffekts. Wenn die Lichtstrahlen, die eine Galaxie aussendet, auf ihrem Weg zur Erde an massereichen Objekten vorbeikommen, werden sie durch die Schwerkraft dieser Objekte abgelenkt. Je schwerer das Objekt, desto stärker die Ablenkung des Lichtstrahls. Eine Galaxie, deren Licht durch den Gravitationslinseneffekt abgelenkt wird, erscheint von der Erde aus betrachtet also an einem anderen Ort, als sie eigentlich ist. Könnte man die Ablenkung messen, so könnte man auf das Gewicht zurückschließen. Dabei gibt es jedoch eine Reihe von Hindernissen.

Herausforderungen bei der Massebestimmung

„Wir sehen die Galaxie nur an ihrem verschobenen Ort, aber wir wissen nicht, wo sie sich eigentlich befindet“, schildert Hendrik Hildebrandt eines der Probleme. Außerdem müssen die Forscherinnen und Forscher die Abstände zwischen der lichtaussendenden Galaxie, der ablenkenden Masse und dem Betrachter kennen, um die Masse berechnen zu können. „Wir sehen aber immer nur ein zweidimensionales Bild vom Himmel, also können wir schwer abschätzen, wie weit Objekte in der Tiefe entfernt sind“, so der Physiker.

Kosmologe Hendrik Hildebrandt sucht Antworten auf fundamentale Fragen zum Universum, zum Beispiel, wie groß die Materiedichte im All ist.
© Roberto Schirdewahn
Kosmologe Hendrik Hildebrandt sucht Antworten auf fundamentale Fragen zum Universum, zum Beispiel, wie groß die Materiedichte im All ist.

Im Lauf der Zeit haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch Werkzeuge entwickelt, um diese Probleme in den Griff zu bekommen. Ihnen kommt zugute, dass die massereichen Objekte das Licht nicht wie perfekte Linsen ablenken, sondern Verzerrungen erzeugen. Das Bild einer Galaxie erscheint dann etwa so, als würde man sie durch den Fuß eines Weinglases betrachten.

So wirkt der Gravitationslinseneffekt

Massereiche Objekte im Universum sind keine perfekten Linsen. Während sie das Licht ablenken, erzeugen sie Verzerrungen.

Massereiche Objekte im Universum sind keine perfekten Linsen. Während sie das Licht ablenken, erzeugen sie Verzerrungen. Die resultierenden Bilder sehen so aus, als ob man durch den Fuß eines Weinglases schauen würde.
© Roberto Schirdewahn
Die resultierenden Bilder sehen so aus, als ob man durch den Fuß eines Weinglases schauen würde.

Besonders massereiche Objekte lenken das Licht von Galaxien so sehr ab, dass man die Verzerrungen auf den ersten Blick sehen kann.

Besonders massereiche Objekte lenken das Licht von Galaxien so sehr ab, dass man die Verzerrungen auf den ersten Blick sehen kann. In diesem Bild des Hubble Space Telescope sind dünne langgezogene und teils gebogene Galaxien zu sehen – ihre Form erscheint nur so, weil ihr Licht von einem großen Galaxienhaufen namens Abell 2218 verzerrt wird.
© NASA, ESA, and Johan Richard (Caltech, USA) Acknowledgement: Davide de Martin & James Long (ESA/Hubble)
In diesem Bild des Hubble Space Telescope sind dünne langgezogene und teils gebogene Galaxien zu sehen – ihre Form erscheint nur so, weil ihr Licht von einem großen Galaxienhaufen namens Abell 2218 verzerrt wird.

Die Nasa demonstriert den Effekt in einem Youtube-Video:

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Diese Verzerrungen können Forscherinnen und Forscher berechnen, sie bestimmen die Abweichung von der ursprünglichen Form der Galaxie – was natürlich voraussetzt, dass die ursprüngliche Form bekannt ist.

Über Millionen Galaxien mitteln

Für einzelne Objekte ist das meist nicht zu bewerkstelligen. Aber Wissenschaftler wissen, wie Galaxien im Durchschnitt auszusehen haben. Sie mitteln daher über eine große Zahl von Galaxien und berechnen deren durchschnittliche Verzerrung, die auch als Scherung bezeichnet wird. Mit statistischen Methoden bestimmt das Forschungsteam für große Himmelsausschnitte die Verzerrungen von zig Millionen Galaxien. Aus diesen können die Physikerinnen und Physiker dann die Ablenkungen des Lichts und somit die Masse der ablenkenden Objekte rekonstruieren – vorausgesetzt, sie kennen die dreidimensionalen Abstände der Objekte zueinander.

Um die Entfernung von Objekten zu ermitteln, nutzen die Forscherinnen und Forscher die Farbe der Galaxien. Schon lange ist bekannt, dass das Licht von weiter entfernt liegenden Galaxien ins Rote verschoben auf der Erde ankommt. Anhand der Farbe einer Galaxie kann man somit auf ihre Entfernung schließen. Die Kosmologen nehmen Bilder der Galaxien bei unterschiedlichen Wellenlängen auf, zum Beispiel eines im blauen, eines im grünen, eines im roten und unter Umständen auch mehrere im infraroten Bereich. Dann ermitteln sie die jeweilige Helligkeit der Galaxie auf den verschiedenen Bildern. Dieses Verfahren ist seit Langem etabliert. „Es funktioniert besonders gut, wenn man Daten aus dem infraroten Bereich einbezieht“, sagt Hendrik Hildebrandt, der Experte für diese Art der Auswertung ist und genau diese Expertise in ein Projekt namens „Kilo-Degree Survey“ eingebracht hat – welches für Aufsehen in der kosmologischen Community sorgte.

Im Vordergrund ist das VLT (Very Large Telescope) Survey Telescope in Chile sichtbar, mit dem die Daten für den Kilo-Degree Survey aufgenommen wurden.
© A. Tudorica/ESO

Aus den Daten des Kilo-Degree Survey bestimmte das Forschungskonsortium einen kombinierten Wert für die Materiedichte und die Klumpungstendenz der Materie im Universum. „Bislang können wir nicht gut auseinanderhalten, ob es viel Materie gibt, die gleichmäßig im Universum verteilt ist, oder wenig Materie, die stark geklumpt ist“, erklärt Hildebrandt. Aus der Analyse kommt am Ende nicht ein einzelner Wert heraus, sondern ein möglicher Wertebereich, in den Materiedichte und Klumpungstendenz fallen könnten.

Zweite Messmethode für die Materiedichte

Diese Parameter können Wissenschaftler aber nicht nur mit dem Gravitationslinseneffekt messen, wie es das Forschungskonsortium mit Hendrik Hildebrandt getan hat, sondern auch mit einer anderen Methode, die auf dem kosmischen Mikrowellenhintergrund basiert. Dabei handelt es sich um Strahlung im Mikrowellenbereich, die kurz nach dem Urknall ausgesandt wurde und noch heute messbar ist.

Mittlerweile liegen Werte für Materiedichte und -klumpung mehrerer Forschungskonsortien vor, die den Gravitationslinseneffekt verwendeten, und Daten des Planck-Konsortiums, das den kosmischen Mikrowellenhintergrund nutzte. Aber die Ergebnisse passen nicht übereinander. Vielmehr scheinen die Gravitationslinsen-Messungen systematisch von den Mikrowellenhintergrund-Messungen abzuweichen; am deutlichsten ist die Abweichung zwischen dem Planck-Konsortium und dem Kilo-Degree Survey, an dem Hendrik Hildebrandt maßgeblich beteiligt ist. „Dafür kann es mehrere Gründe geben“, erklärt er. „Entweder wir oder eines der anderen Forschungskonsortien hat einen systematischen Fehler bei der Datenauswertung gemacht – oder es stimmt etwas nicht mit dem Standardmodell der Kosmologie.“

Dieses fundamentale Modell der Kosmologie, das auf Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie beruht, beschreibt die Entstehung und Entwicklung des Weltalls. Die Forscher benötigen es zur Interpretation ihrer Daten. „Wir haben auch alternative Modelle zur Interpretation genutzt und tatsächlich eines gefunden, dass unsere Daten und die der Mikrowellenhintergrund-Messungen in Einklang bringt“, sagt der Physiker.

Standardmodell der Kosmologie könnte falsch sein

In dem alternativen Modell wird Einsteins kosmologische Konstante, die die Gravitationskraft beschreibt, durch die sogenannte Dunkle Energie ersetzt – eine Kraft, die für die beschleunigte Expansion des Universums verantwortlich ist. „Das Besondere an dem alternativen Modell ist, dass sich die Dunkle Energie darin im Lauf der Zeit verändert“, erklärt Hendrik Hildebrandt. Das könnte die Diskrepanz zwischen den Datensätzen erklären. Denn der kosmische Mikrowellenhintergrund stammt aus dem jungen Universum kurz nach dem Urknall; der Gravitationslinseneffekt vermisst hingegen ein viel älteres Universum – in der Zeitspanne könnte sich die Dunkle Energie verändert haben.

Umfangreichere Analyse läuft

Noch sei es aber zu früh, um das Standardmodell der Kosmologie zu verwerfen, sagt Hildebrandt. Statistisch gibt es eine etwa einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass der Datensatz des Kilo-Degree Survey doch mit den Planck-Daten überlappt. Hendrik Hildebrandt und seine Kooperationspartner wollen die Materiedichte und -klumpung daher noch präziser bestimmen als zuvor und werten dazu gerade einen umfangreicheren Datensatz aus. „Es wird sich zeigen, ob unsere Daten nach dieser Analyse noch weniger mit den Daten des Planck-Konsortiums zusammenpassen oder sich doch damit vereinen lassen“, sagt er.

Es ist das erste Mal in meiner Forscherlaufbahn, dass ich an so einem kritischen Punkt angelangt bin.


Hendrik Hildebrandt

So oder so ist es eine besondere Zeit für den Bochumer Forscher. „Es ist das erste Mal in meiner Forscherlaufbahn, dass ich an so einem kritischen Punkt angelangt bin“, sagt er. „Die nobelste Aufgabe eines Experimentalphysikers ist es, Theorien zu Fall zu bringen.“ Nun wartet das Bochumer Team mit Spannung, ob die Erklärung für die Diskrepanz der Daten eine ganz profane sein wird, nämlich ein Messfehler. „Es kann aber auch sein, dass wir mit unseren neuen Daten eine Revolution auslösen werden“, so Hildebrandt. Ergebnisse erwartet das Team im späten Frühjahr 2020.

Das Very Large Telescope (im Hintergrund) liegt auf dem Paranal im Norden Chiles in der Atacamawüste, die optimale Bedingungen für astronomische Beobachtungen bietet. Im Vordergrund ist das Vista-Teleskop zu sehen, das die Infrarotdaten liefert.
© ESO/G.Hüdepohl (atacamaphoto.com)

German Center for Cosmological Lensing

Gemeinsam mit der RUB-Gastprofessorin Catherine Heymans (University of Edinburgh) baut Hendrik Hildebrandt aktuell in Bochum ein neues Forschungszentrum auf, das German Center for Cosmological Lensing. In das Center fließen unter anderem die Mittel eines Consolidator Grants, den Hildebrandt beim Europäischen Forschungsrat eingeworben hat. Das RUB-Team wird Teil der Euclid-Mission der European Space Agency sein, die 2022 ein neues Weltraumteleskop starten wird. Frühere Analysen der Bochumer basierten auf Daten von bodengebundenen Teleskopen. Die aus dem All aufgenommenen Daten versprechen einen größeren Bereich abzudecken und eine bessere Qualität. Außerdem möchten sich die Bochumerinnen und Bochumer am Legacy Survey of Space and Time beteiligen, einem US-amerikanischen Projekt, das weitere wertvolle Daten liefern wird, die sich mit denen der Euclid-Mission kombinieren lassen würden.

Originalveröffentlichungen
  • Neueste Veröffentlichung zur Kalibrierung mit Infrarotdaten: Hendrik Hildebrandt et al.: KiDS+VIKING-450: Cosmic shear tomography with optical and infrared data, in: Astronomy & Astrophysics, 2020, DOI: 10.1051/0004-6361/201834878
  • Frühere Veröffentlichung zu Alternativen zum Standardmodell der Kosmologie: Shahab Joudaki et al.: KiDS-450: testing extensions to the standard cosmological model, in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2017, DOI: 10.1093/mnras/stx998
  • Frühere Veröffentlichung zur Diskrepanz zwischen den Gravitationslinseneffekt-Messungen und den Planck-Messungen: Hendrik Hildebrandt et al.: KiDS-450: cosmological parameter constraints from tomographic weak gravitational lensing, in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2016, DOI: 10.1093/mnras/stw2805

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Veröffentlicht

Dienstag
28. April 2020
09:27 Uhr

Dieser Artikel ist am 4. Mai 2020 in Rubin 1/2020 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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