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Warum sehen ein Entscheidungsprozess ist
Eine in den Neurowissenschaften populäre Theorie geht davon aus, dass unser Vorwissen laufend Erwartungen erzeugt, die mit aktuell eingehenden Informationen verglichen werden. Unterscheiden sich Vorhersage und tatsächliche Ereignisse, interpretieren Nervenzellen dieser sogenannten Predictive-Coding-Theorie zufolge Differenzen als Vorhersagefehler. Diese werden über mehrere Verarbeitungsstufen im Gehirn minimiert, quasi wegdiskutiert, um Vorhersagen neu anzupassen. Forscher an der RUB und der Universität Freiburg haben in einer Studie zur visuellen Wahrnehmung widerlegt, dass Vorhersagefehler im Gehirn komplett wegdiskutiert werden. Stattdessen erreichen sie höchste Verarbeitungsstufen, bleiben dem Bewusstsein damit zugänglich, und können als gelegentliche Wahrnehmungstäuschungen direkt sichtbar werden. Bisherige Predictive-Coding-Theorien greifen damit zu kurz. Über die Arbeit berichtet die Fachzeitschrift Plos One online am 4. Mai 2020.
Vorhersagen innerhalb weniger Millisekunden
Um Gegenstände zu fixieren, machen unsere Augen pro Tag weit mehr als hunderttausend schnelle Blicksprünge. Verweilen unsere Augen etwas länger an einem Ort, beginnt das Gehirn bereits nach etwa 100 Millisekunden mit Vorhersagen. Dabei werden Differenzsignale zwischen vorhergehenden und aktuellen Bildinhalten als Vorhersagefehler weitergeleitet. Ein Vorteil: Wie auch bei Verfahren zur Komprimierung von Videos reduziert sich dadurch das Datenvolumen. „Ein zweiter Vorteil wird im wahrsten Sinne des Wortes erst auf den zweiten Blick erkennbar“, erklärt Privatdozent Dr. Dirk Jancke, Leiter der Studie: „Statistisch gesehen ist es wahrscheinlich, dass zukünftige Blicksprünge an Orten landen, an denen die Unterschiede zu vorherigen Bildinhalten am größten sind. Durch die Bildung von Differenzsignalen zwischen vergangenen und aktuellen Bildinhalten ist das Sehsystem damit frühzeitig auf neue Bildinhalte vorbereitet.“
Um zu testen, ob unser Gehirn eine solche Strategie verfolgt, zeigten die Autoren Probanden zwei schnell aufeinanderfolgende Bilder. Im ersten waren zwei Gitter überlagert, im zweiten war nur eines der Gitter zu sehen. Die Aufgabe bestand darin, anhand eines Testreizes zu berichten, welche Orientierung das zuletzt gesehene Gitter hatte. In den meisten Fällen berichteten die Probanden wie zu erwarten korrekt die zuletzt gezeigte Orientierung. Überraschenderweise nahmen sie in einigen Fällen jedoch fälschlicherweise die exakt orthogonale Orientierung wahr. Die Probanden sahen manchmal anstelle der tatsächlichen Orientierung exakt die Differenz zwischen erstem und zweitem Bild. „Diese Differenz kann als Vorhersagefehler interpretiert werden, der gelegentlich ins Bewusstsein tritt, und hier als Wahrnehmungstäuschung direkt sichtbar wird“, so Robert Staadt vom Bochumer Institut für Neuroinformatik, Erstautor der Studie.
Nicht zu früh in die Schublade
Die Ergebnisse offenbaren, dass unser Sehsystem sowohl Informationen über vergangene, aktuelle, als auch über mögliche zukünftige Bildinhalte auf kurzen Zeitskalen bereithält, um rasch auf wechselnde Bildfolgen vorbereitet zu sein. Diese Strategie gewährleistet zugleich Stabilität und Flexibilität. „Insgesamt stützen unsere Resultate Hypothesen, die Wahrnehmung als einen Entscheidungsprozess betrachten“, so Jancke. Vorhersagefehler sollten nicht zu früh in gedankliche Schubladen, da sie für zukünftige Ereignisse wichtig werden können.
12. Mai 2020
08.23 Uhr