Meetings finden normalerweise in Brüssel statt, wegen der Pandemie aber online.
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Interview „Man ist immer auf der Höhe der Zeit, was die Forschung betrifft“

Warum es sich lohnt, neben der eigenen Forschung die Anträge anderer Teams zu begutachten.

Prof. Dr. Marion Gebhard ist seit über 20 Jahren als Gutachterin für die Europäische Kommission tätig. Die Professorin im Fachbereich Elektrotechnik und angewandte Naturwissenschaften an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Leiterin der Arbeitsgruppe Sensortechnik und Aktorik berichtet im Interview, warum das immer noch gewinnbringend für sie ist.

Frau Gebhard, vielen Dank für Ihre Zeit und Bereitschaft, Ihre Erfahrungen als Gutachterin mit den Forschenden an der RUB zu teilen. Seit wann sind Sie als Gutachterin tätig?
Ich bin seit 1999 Gutachterin. Vorher war ich in der Industrie beschäftigt. Seit ich an der Westfälischen Hochschule bin, ergab sich die Möglichkeit der Gutachtertätigkeit.

Warum haben Sie sich damals für die Gutachtertätigkeit entschieden? Was macht Ihnen besonders Spaß dran?
Man ist immer auf der Höhe der Zeit, was die Forschung betrifft, egal in welchem Gebiet. Das ist einer der wesentlichen Gründe. Netzwerken ist auch sehr interessant. Man lernt andere Menschen aus ganz Europa kennen. Das Netzwerken findet nicht mit den Projektpartnern statt, sondern mit den Experts. Man lernt Kollegen aus ganz Europa kennen: Finnland, Ungarn, Rumänien und so weiter. Die Tätigkeiten sind inhaltlich spannend und nach wie vor high-end-bezogen auf den wissenschaftlichen Inhalt. Was läuft gerade in Europa? Welche neuen Technologien werden entwickelt? Die Auseinandersetzung mit den aktuellen Themen in der Forschung und Innovation macht mir viel Spaß.

Entweder begutachten oder einen Antrag stellen

Ist es so, dass wenn man als Scientific Expert tätig war, man selbst bessere Chancen für einen erfolgreichen Antrag hat?
Es gibt zwei Seiten. Entweder sind Sie Gutachter und auch einigermaßen bezahlt oder Sie sind Antragsteller. Das ist auch ganz sinnig, um jegliche Interessenkonflikte zu vermeiden. Wenn Sie als Gutachter mitmachen, können Sie keine eigenen Anträge schreiben. Also machen Sie das vielleicht ein, zwei, drei Jahre mit und schnuppern mal rein. Wie geht das? Danach könnte man einen Antrag selbst schreiben. Üblicherweise sind die Gutachter die eine Front und die Antragsteller die andere. Expert zu werden ist nicht der richtige Weg, um einen Forschungsantrag zu stellen oder Partner zu finden. Diejenigen, die man kennenlernt, sind andere Gutachter, und es geht rein um den Gutachterprozess.

Scientifc Experts

Scientifc Experts der Europäischen Kommission begutachten die Anträge innerhalb der Rahmenprogramme für Forschung und Innovation der Europäischen Union, können aktiv Einfluss auf zukünftige Themen und Ausschreibungen nehmen und bei der Gestaltung der Prioritäten in der europäischen Forschungsförderung mitwirken. Außerdem erhalten sie eine einzigartige Möglichkeit, sich mit den anderen Forschenden in- und außerhalb Europas zu vernetzen. Zum Start des neuen Rahmenprogramms für Forschung und Innovation können Forschende sich als Scientific Expert  für Horizon Europe bei der Europäischen Kommission registrieren.

Wie läuft die Bewerbung als Gutachterin oder Gutachter bei der Europäischen Kommission ab?
Das Anlegen des Portfolios auf der Expert-Datenbank ist der Dreh- und Angelpunkt. Es braucht relativ viel Zeit, bis Sie dann Ihre Spezialfelder und alle Daten eingegebenen haben: Stichwörter, Ihre Publikationen, Lebenslauf gehören dazu. Die EU-Officer suchen die Gutachter für bestimmte Anträge aus und fragen sie an.

Wie kann man sich den ganzen Ablauf der Tätigkeit vom Vertrag an bis zum Ende des Gutachtens vorstellen?
Der erste Schritt ist die Abfrage der Verfügbarkeit bei den Gutachtern, die angefragten Termine muss ich bestätigen. Dann schalte ich natürlich so gut es geht alles frei. Danach kommt ein Vertrag mit der EU zustande. Bei der Begutachtung gibt es zwei Phasen. Sie kriegen im Participant Portal die zugeordneten fünf bis sechs Anträge mit 70-Seiten-Dokumenten zugesandt. Die arbeiten Sie dann typischerweise innerhalb von drei Wochen durch. Und zum Schluss müssen Sie ein sogenanntes Individual Assessment ausfüllen. Diese Form ist mit bestimmten Fragen kategorisiert und beinhaltet drei Schwerpunkte der Evaluation: Scientific Excellence, Impact und Implementation.

Rund vier Wochen später trifft man sich in Brüssel zum Consensus Meeting. Die begutachteten Projekte sind immer interdisziplinär, genauso wie die Gutachter, die sich innerhalb von einer Woche täglich im Zweistundentakt treffen. Die Meetings werden von der EU koordiniert.

Mein Kalender sieht folgendermaßen aus: Morgens von 8 Uhr bis 10 Uhr ist das Projekt A, mittags mein individueller Stundenplan, weiteres Meeting erst am Nachmittag und so weiter. So geht das den ganzen Tag. Es kommen drei bis fünf Gutachter, ein EU-Projekt-Officer und ein Rapporteur zusammen. In dieser Konstellation findet das Consensus Meeting statt. Das heißt, aus den drei bis fünf Individual Assessments wird dann eins: der Consensus Report. Nach dem sogenannten quality-check durch Linguisten und Muttersprachler bekommt der jeweilige Koordinator des Projektes die endgültige Beurteilung. Am Ende ist das eine Seite. Diese Beurteilung ist meistens sehr kurz, gerecht und klar gehalten. Dann kann drei Monate später schon das Projekt anfangen.

Wie finden die Consensus Meetings während der Pandemie statt?
Die Meetings finden jetzt online statt. Der Ablauf bleibt ähnlich wie bei den Live-Meetings. Aber jetzt ist es alles remote und die persönliche Kommunikation fehlt schon sehr.

Es ist total spannend.

Mit wie viel Zeitaufwand muss man rechnen? Werden die Tätigkeiten auch bezahlt?
Das ist sehr schwer zu sagen, weil die Projekte sehr unterschiedlich sind. Wenn ich eine Marie Sklodowska-Curie Fellowship begutachte, ist es grundsätzlich etwas anderes, als wenn ich ein großes Projekt im Bereich Informations- und Kommunikationstechnik oder Robotik entgegennehme. Es gibt genaue Margen, typischerweise sind zwei 70-Seiten-Projekte für einen Arbeitstag vorgesehen. Ein Arbeitstag wird mit 450 Euro bezahlt. Nach wie vor brauche ich oftmals noch mehr Zeit. Ich arbeite durchweg die doppelte Zeit, für die ich bezahlt werde.

Arbeiten Sie jetzt auf diesem Gebiet mehr als früher?
Am Anfang habe ich sehr, sehr viel investiert. Ich weiß noch, wie mein erster Einsatz damals 1999 war. Allein die Vorschriften und Regulierungen beinhalten 100 Seiten, so habe ich mich durchgearbeitet. Jetzt ist es ganz unterschiedlich. Das ist ja kein dauerhafter Job oder so, sondern Sie kriegen jedes Mal einzelne Aufträge. Im Horizon 2020 hatte ich 25 Aufträge. Das ist relativ viel für eine Gutachterin. Dies kam zustande, weil ich mein Portfolio seit 1999 erweitert habe. Ich mache nicht nur Gutachten im Bereich Robotik und Sensoren, was mein Fachgebiet ist, sondern auch im Bereich Space, Technology und Physik uns so weiter. Zum Beispiel hatte ich vor kurzem ein Projekt im Bereich Quantentechnologie in Arbeit. Es ist total spannend. Da ich so viele Jahre Erfahrungen und ein gewisses Standing bei der EU habe, werde ich auf vielen Gebieten angefragt.

Sie sind jetzt seit mehr als 20 Jahren als Gutachterin tätig. Macht es immer noch Spaß?
Ja, denn die Forschung geht ja weiter. Also Projektanträge durchschauen und begutachten bringt sehr viel. Noch interessanter finde ich die Auseinandersetzung als Reviewer mit den wenigen, die gefördert werden. Es gibt zwei Arten von Gutachtertätigkeiten: Expert zur Begutachtung der Projektanträge und Reviewer zur Begutachtung des Projektfortschritts. Ein Jahr nach der Bewilligung startet schon der erste Review. Ich habe etwas mehr als zwei Wochen Zeit, um mir die Reports anzuschauen. Und dann trifft man sich eigentlich in Brüssel oder am Projektstandort. Es ist auch spannend, wenn man in Turin, in Spanien oder sonst wo in Europa unterwegs ist und solche Projekte wie Wasseranalyse, Robotik, Sensoren und ähnliches mit eigenen Augen sieht. Wenn die Projekte laufen, lernt man dann schon die Projektpartner kennen.

Zur Person

Marion Gebhard studierte Physik an der Uni Konstanz und promovierte in der Nuklearen Festkörperphysik. Sie war am Institut für Mikrosensoren, -aktoren und Systeme der Universität Bremen sowie bei der Robert Bosch GmbH in Reutlingen beschäftigt, bevor sie eine Professur für Sensortechnik und Aktorik an der Fachhochschule für Technik in Esslingen und danach an der Fachhochschule Gelsenkirchen, heute Westfälische Hochschule, annahm.

Veröffentlicht

Donnerstag
22. April 2021
10:12 Uhr

Von

Julia Rudenko

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