Neurologie Früh behandelt ist halb gewonnen
Das Wissen um die genaue Entstehung von neurologischen Erkrankungen ist essenziell für die Entwicklung von Therapien. Neue Erkenntnisse könnten Ansätze für effektivere Diagnose- und Therapiestrategien liefern.
Neurologische Erkrankungen beginnen oft mit einem Entzündungsgeschehen und dem Abbau der sogenannten Myelinschicht, welche die Nervenfasern wie eine schützende Isolierschicht umgibt. Darauf folgt meist die gefürchtete Schädigung der Nervenfasern. Von nun an tickt die Uhr: Denn während das Entzündungsgeschehen im Frühstadium neurologischer Erkrankungen noch gut behandelbar ist, schlagen Therapien in späteren Stadien häufig nicht mehr ausreichend an. Zwei Arbeitsgruppen um Dr. Ilya Ayzenberg sowie Dr. Ruth Schneider aus der Universitätsklinik für Neurologie und dem Institut für Neuroradiologie des RUB-Klinikums St. Josef Hospital haben sich mit dem Zusammenspiel dieses Dreischritts aus Entzündungen, Myelinabbau und der meist irreversiblen Nervenschädigung beschäftigt. Ihre Ergebnisse haben sie im März und Juni 2022 in den Fachzeitschriften Brain und Brain Communications veröffentlicht.
Auf der Spur des geheimnisvollen IgLON5-Syndroms
Der Arbeitsgruppe um Ilya Ayzenberg gelang es erstmals, Belege für eine primär entzündliche Ursache des sogenannten IgLON5-Syndroms in einer großen Patientenkohorte nachzuweisen. Es handelt sich dabei um eine 2014 zum ersten Mal beschriebene, seltene Erkrankung des höheren Alters. In vielen Fällen führt die Erkrankung unbehandelt zum Tod.
Die Entstehungsmechanismen wirken auf den ersten Blick widersprüchlich: Einerseits wurde beim IgLON5-Syndrom eine Ablagerung von potenziell schädlichen TAU-Proteinen nachgewiesen – ähnlich wie bei der Alzheimer-Demenz. Andererseits deutet die Bildung von Autoantikörpern, welche sich gegen das Oberflächenprotein IgLON5 richten, auf autoimmun-entzündliche Mechanismen hin. Die Forschungsgruppe führte eine detaillierte Analyse der Frühphase des IgLON5-Syndroms durch. Dazu rekrutierten die Forschenden mehr als 50 Patienten aus dem deutschlandweiten Netzwerk für autoimmune Hirnentzündungen GENERATE.
Häufig erhalten Betroffene ihre Diagnose erst sehr spät. „In unserer Kohorte konnten wir jedoch Patient*innen mit kurzem Krankheitsverlauf analysieren und haben unerwartet in Frühstadien der Erkrankung entzündliche Veränderungen im Hirnwasser nachweisen können“, erklärt Ilya Ayzenberg. Im Frühstadium der Erkrankung sprachen Betroffene gut auf eine entzündungshemmende Therapie an, was auch die nachfolgende Neurodegeneration verhinderte. Im Spätstadium der Erkrankung waren die Neurodegenerationsmarker im Blut hingegen deutlich erhöht und die Therapie nicht mehr wirksam. „Eine frühe Therapie ist entscheidend um diese Kaskade zu verhindern“, folgert Dr. Thomas Grüter, der Erstautor der Studie.
Nervenverlust verhindern: ein Wettlauf gegen die Zeit
Auch bei sehr viel häufigeren Autoimmun-Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose ist die Interaktion von entzündlichen und neurodegenerativen Prozessen entscheidend dafür, ob und wann eine Therapie wirksam ist. Die Myelinschicht spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Ihr Verlust führt zu strukturellen Nervenschädigungen und zu einem irreparablen Verlust von Nervenfasern.
Das Problem der Quantifizierung des Myelingehalts im Gehirn
„Ein zentrales Problem besteht darin, Therapieerfolge wie die Remyelinisierung beim lebenden Patienten ohne Gewebsschnitte wie im Tiermodell zu bestimmten“, so Ruth Schneider. Der Neurologin und ihrer Kollegin Britta Matusche aus der Neuroradiologie ist es nun erstmals gelungen, mittels Magnetresonanztomografie (MRT) die Remyelinisierung, also die Neubildung der Myelinscheiden, in vivo beim Menschen abzubilden.
Das langfristige Ziel des Forschungsteams ist es, entsprechende MRT-Messungen nicht nur bei seltenen Stoffwechselerkrankungen einzusetzen, sondern auch bei häufigeren Erkrankungen, bei denen Medikamente eine Remyelinisierung bezwecken sollen, etwa der Multiplen Sklerose.