Neuroinformatik Erinnerungen speichern, ohne alte zu zerstören
Das Gehirn merkt sich ständig neue Erlebnisse, die es in den Wust vorheriger Erinnerungen integrieren muss. Erstaunlich, dass dabei keine alten Gedächtnisspuren überschrieben werden.
Der erste Schultag: das erste Betreten des Klassenraums, das Kribbeln im Bauch und die Freude über die Schultüte – all dies sind typische Beispiele für Erinnerungen aus unserem episodischen Gedächtnis. Es speichert einmalige persönliche Erlebnisse zeitlich und räumlich geordnet ab und verknüpft sie mit subjektiven Erfahrungen. In einer Studie des Instituts für Neuroinformatik (INI) an der Fakultät für Informatik der Ruhr-Universität Bochum hat ein Team um Prof. Dr. Laurenz Wiskott ein neues Computermodell des episodischen Gedächtnisses entwickelt und damit bedeutende Fortschritte in Bezug auf das Verständnis des Hippocampus erzielt – der Region des Gehirns, die für die Bildung neuer episodischer Erinnerungen von entscheidender Bedeutung ist. Die Arbeit wurde am 20. Juni 2024 in der Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlicht.
Sequenzen zuverlässig speichern, ohne alte Erinnerungen zu zerstören
Das episodische Gedächtnis bildet eine wichtige Grundlage für unsere persönliche Lebensgeschichte. Es hilft uns, unsere Identität zu formen, indem wir vergangene Erfahrungen und Erlebnisse in der richtigen Reihenfolge abspeichern und verknüpfen. „Das geschieht durch Veränderungen in den Verbindungen zwischen den Nervenzellen in unserem Gehirn“, erläutert Laurenz Wiskott. „Ein bisher unerklärtes Phänomen war, wie das menschliche Gehirn zu diesen Veränderungen in der Lage ist, ohne andere Erinnerungen zu vergessen – und das obwohl das Erlebte nur genau einmal gesehen wird und daher nicht langsam und vorsichtig in den Schaltplan der Nervenzellen integriert werden kann.“ Das innovative Computermodell der Bochumer Forschenden ermöglicht, genau diese natürliche Fähigkeit des menschlichen Gehirns nachzustellen: Sequenzen nach einmaliger Präsentation zuverlässig zu speichern, ohne dabei alte Erinnerungen zu zerstören.
Das Modell konzentriert sich auf die Prinzipien der Selbstorganisation im Hippocampus und basiert dabei auf der CRISP-Theorie von Prof. Dr. Sen Cheng, der ebenfalls an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Die Abkürzung CRISP steht für Content Representation, Intrinsic Sequences, and Pattern Completion. Das Modell definiert insbesondere die Funktion der sogenannten CA3-Region im Hippocampus neu. „Herkömmlich herrschte die Annahme, dass die Speicherung der episodischen Erinnerungen direkt im CA3-Netzwerk erfolgt“, so Erstautor Dr. Jan Melchior. „Wir nutzen die CA3-Region nun allerdings nur als eine Art Ankerpunkt für das Gedächtnis. Gespeichert wird in den Regionen, die der CA3 vor- und nachgeschaltet sind.“
Ein neuronales Netzwerk wie eine gut organisierte Bibliothek
Um dies zu erreichen, trainierte das Forschungsteam die CA3-Region in seinem Modell mit Vorabinformationen und richtete so, bildlich gesprochen, eine gut organisierte Bibliothek in CA3 ein. „Wenn neue Bücher, also neue Erlebnisse, hinzukommen, muss die Bibliothek nicht komplett neu geordnet werden. Stattdessen werden die neuen Bücher in die vorhandene Struktur eingefügt und mit bestehenden Regalen und Kategorien verknüpft“, so Jan Melchior weiter. Dies spare Zeit und halte die Bibliothek gut organisiert.
Die CA3-Region bleibt im Modell stabil und kann effizient arbeiten, ohne ständig ihre interne Struktur anpassen zu müssen. So werden Verarbeitung und Speicherung der Informationen schneller und zuverlässiger. Die neuronalen Veränderungen im Zuge der Lernprozesse finden ausschließlich in benachbarten Regionen statt.
Die Ergebnisse der Simulation überzeugten die Forschenden. „Überraschend finde ich nach wie vor die Robustheit des Modells“, so Laurenz Wiskott. „Selbst bei unvollständigen oder fehlerhaften Hinweisreizen kann eine einzige Präsentation einer Mustersequenz zuverlässig abgespeichert, erinnert und abgerufen werden.“ „Das Modell funktioniert dabei nicht nur mit künstlich generierten Sequenzen, sondern auch mit handgeschriebenen Ziffern und natürlichen Bildern“, ergänzt Jan Melchior. „Zudem kann es sich ohne zusätzlichen Input selbst verbessern, indem es wiederholt abspielt, was es gelernt hat.“
Projekt ist Teil eines großen Konzepts
Die Studie ist Teil eines größeren Forschungsprojekts mit Fokus auf das episodische Gedächtnis. „Wir gehen davon aus, dass unvollständige persönliche Gedächtnisinhalte und generelles semantisches Wissen einander ergänzen und helfen, plausible Erinnerungen abzurufen – wenn auch nicht immer ganz korrekt“, erklärt Laurenz Wiskott, der bereits seit 2008 in den Bereichen Maschinelles Lernens und Computational Neuroscience an der Ruhr-Universität Bochum forscht und als Principal Investigator im Research Department of Neuroscience tätig ist. Dieses größere Konzept wird derzeit in der Forschungsgruppe 2812 „Szenarien der Vergangenheit: Ein neuer theoretischer Rahmen für das generative episodische Gedächtnis“ erforscht, welche die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert.