Pigeons are hard-working, intelligent and evolutionarily far removed from humans. This combination makes them particularly interesting for the Bochum team’s research.

© Roberto Schirdewahn

Biopsychologie Kleines Hirn, aber oho

Tauben sind fleißige Lerner. Und trotz nur 2,3 Gramm Hirngewicht ziemlich schlau. Ein Glücksfall für die Bochumer Biopsychologie, die dank ihnen weiter zu den grundlegenden Mechanismen des Extinktionslernens vordringt.

Ein gelbes Quadrat leuchtet auf. Pick! Die Taube stößt ihren Schnabel gegen das leuchtende Viereck. Kurz darauf öffnet sich eine Klappe zu ihren Füßen und gibt ein Futterpellet frei, das flugs im Schnabel verschwindet. Mithilfe solcher Belohnungen lernen Tauben schnell, die Reaktion auf einen eigentlich neutralen Reiz wie das leuchtende Quadrat mit einem positiven Ergebnis zu verbinden. Die Arbeitsgruppe Biopsychologie der Ruhr-Universität Bochum interessiert sich aber vor allem dafür, was passiert, wenn die Vögel umlernen müssen, wenn also das gelbe Quadrat plötzlich keine Belohnung mehr nach sich zieht. Die Mechanismen dieses sogenannten Extinktionslernens stehen im Fokus des Sonderforschungsbereichs 1280.

Anders als in vielen anderen Experimenten arbeiten die Bochumer Biopsychologen Dr. Roland Pusch und Prof. Dr. Onur Güntürkün mit Vögeln statt mit Mäusen, Ratten oder Menschen. „Wir untersuchen ein Tier, dessen letzter gemeinsamer Vorfahr mit diesen drei Arten vor 324 Millionen Jahren gelebt hat: die Taube“, erklärt Onur Güntürkün. Der Grund dafür ist einfach: Pusch und Güntürkün sind auf der Suche nach denjenigen Komponenten des Extinktionslernens, die grundlegend sind und daher selbst bei den evolutionär weit vom Menschen entfernten Arten gleich sein sollten.  

Extinktionslernen mit Angst oder Belohnung untersuchen

„Für viele Untersuchungen mit Menschen, Ratten und Mäusen wurde die Furchtkonditionierung verwendet“, erklärt Roland Pusch. Tiere und Menschen lernen in diesen Studien, einen eigentlich neutralen Reiz mit unangenehmen Konsequenzen, etwa einem leichten elektrischen Schlag zu verbinden – und diese Assoziation dann wieder umzulernen. Solche Versuche sind naheliegend, da eine verminderte Fähigkeit zum Extinktionslernen nach unangenehmen Erlebnissen zentral für Angsterkrankungen ist. Aber sagen Studien zur Furchtkonditionierung allgemein etwas über das Extinktionslernen aus? Oder sind die Ergebnisse nur spezifisch für das Furchtlernen? Oder eventuell spezifisch für die untersuchte Art? Aus Belohnungsstudien mit Tauben und dem Vergleich mit früheren Arbeiten zu anderen Arten erhofft das Biopsychologie-Team sich allgemeingültige Erkenntnisse zum Extinktionslernen.

Tauben leben direkt neben uns und keiner käme auf die Idee, dass die perfekte Anpassung an identische Lebensräume mit einem vollständig anders organisierten Gehirn möglich ist.

— Onur Güntürkün

„Tauben gibt es überall, wo es auch Menschen gibt. Sie leben direkt neben uns, und keiner käme auf die Idee, dass die perfekte Anpassung an identische Lebensräume mit einem vollständig anders organisierten Gehirn möglich ist“, sagt Güntürkün. Als vergleichender Kognitionsneurowissenschaftler interessiert er sich für die Kognition ganz verschiedener Tierarten. „Vögel haben einen anderen Weg als Säugetiere in der Evolution ihres Gehirns eingeschlagen“, erklärt er.

Roland Pusch and Onur Güntürkün are looking into the general principles of extinction learning in Collaborative Research Center 1280. © Roberto Schirdewahn

Die Hirnrinde, die den größten Teil des menschlichen Vorderhirns ausmacht, ist bei Tauben unabhängig von Säugetieren entstanden und auf Areale begrenzt, die Sinnesinformationen verarbeiten. Die meisten anderen Bereiche sind in einer bis jetzt unbekannten Art organisiert und erscheinen unter dem Mikroskop wie eine ungeordnete graue Masse – ganz anders also als die in sechs Schichten angelegte Hirnrinde des Säugetiergehirns. Trotz dieser großen Unterschiede zeigen Vögel, und somit auch Tauben, vergleichbare Lernprozesse und Funktionsweisen des Extinktionslernens, wie Pusch und Güntürkün in einer Serie von Experimenten zeigten.

Tauben lernen mit Belohnung

Hierzu brachten sie den Vögeln bei, für eine Futterbelohnung auf farbige Quadrate zu picken. Diese Experimente fanden in Verhaltensboxen statt, in denen den Tieren verschiedene Reize präsentiert wurden. Nicht alle Reize waren dabei mit einer Futterbelohnung verknüpft. Indem die Forscher gezielt einzelne Gehirnbereiche pharmakologisch ausschalteten, konnten sie deren Beitrag zum Extinktionslernen entschlüsseln. Die vergleichenden Ergebnisse waren gemischt: Einige Hirnstrukturen schienen genau das Gleiche zu tun wie von Säugetieren bekannt, während andere Regionen veränderte Funktionen aufwiesen. Zum Beispiel lernt bei Säugetieren der Hippocampus den Kontext, also die Umgebungsreize, in denen das Extinktionslernen stattfindet. Bei Vögeln ist dies ähnlich, aber zusätzlich ist auch das visuelle System darauf spezialisiert. „Ein großer Teil der Prinzipien ist also gleich und hat eine lange evolutionäre Geschichte“, fasst Roland Pusch zusammen. „Aber auf dem langen evolutionären Weg, den Vögel und Säugetiere getrennt durchlaufen haben, ist es auch zu Veränderungen gekommen. Trotzdem ist es erstaunlich, wie ähnlich die Mechanismen immer noch nach 324 Millionen Jahren sind“.

In einem weiteren Experiment schauten sich die beiden Forscher die Aktivität von einzelnen Nervenzellen während des Lernens an. „Für dieses Experiment mussten die Tauben extrem fleißig sein“, erzählt Roland Pusch. Die Tiere lernten zunächst, dass das Picken auf ein bestimmtes Muster eine Futterbelohnung nach sich zieht. Sobald sie ihr Lernziel erreicht hatten, änderte sich die Farbe des Kontextes, also der Umgebungsbeleuchtung, von weiß zu rot. Ab dem Moment führte das Picken auf das früher belohnte Muster nicht länger zur Futtervergabe. Ärgerlich pickten die Tauben immer wieder auf das Muster, aber nichts passierte. Nach und nach hörten sie auf zu reagieren: Extinktionslernen fand statt.

Vorhersagefehler stößt neuen Lernprozess an

Güntürkün und Pusch wollten herausfinden, was in dem Moment im Gehirn passiert, in dem die zuvor erlernten Verhaltensmuster nicht mehr funktionierten. Das Ausbleiben der Belohnung nach einer vormals korrekten Handlung führt im Gehirn zum sogenannten Vorhersagefehler. Dieses Ereignis signalisiert dem Gehirn, dass eine Erwartung nicht erfüllt wurde und ein neuer Lernprozess beginnen sollte. Die Experimente zeigten, dass der Vorhersagefehler verschiedene Komponenten des vorher gelernten Verhaltens verändert.

Die Forscher erweiterten ihr Experiment. Nachdem das Extinktionslernen abgeschlossen war, änderten sie die Umgebungsbeleuchtung zurück auf die Ursprungsfarbe. Sofort zeigten die Tauben wieder das gelernte Pickverhalten, obwohl auch in dieser Phase keine Belohnung folgte. Das gelernte Verhalten war nicht vergessen und sein Wiederauftreten erfolgte ausschließlich in der Erwartung einer Belohnung. Die Analyse der Nervenzellaktivität zeigte: Informationen über den Kontext – also die Umgebung, in der das Lernen stattgefunden hatte – werden maßgeblich in einer Hirnregion namens Hippocampus abgelegt. Diese Information wird in einer Region im vorderen Bereich des Taubengehirns bereitgestellt. Dort werden Entscheidungen vorbereitet und in Abhängigkeit der Belohnungserwartung in der jeweiligen Versuchsumgebung getroffen.

Das gesamte Gehirn bei der Arbeit beobachten

Die Auswertung von einzelnen Nervenzellen im Gehirn erzeugt ein detailreiches Bild der Denk-Maschinerie, bleibt aber beschränkt auf kleine Regionen des Gehirns. Um das gesamte Gehirn bei der Arbeit zu untersuchen, entwickelte Onur Güntürkün zusammen mit Dr. Mehdi Behroozi ein System, in dem Tauben in einem Magnetresonanztomografen Extinktionslernen durchführen können. Zum ersten Mal konnten sie den Verlauf des Extinktionslernens im gesamten Gehirn mit hoher räumlicher Auflösung bei einem nicht menschlichen Lebewesen darstellen.

Sobald das Extinktionslernen beginnt, werden Regionen des Gehirns in ihrer Aktivität heruntergefahren, die visuelle Reize verarbeiten, welche für das Experiment wichtig sind. „Das Tier nimmt nach wie vor alle Dinge wahr“, erklärt Güntürkün. „Die Verarbeitung richtet aber weniger Aufmerksamkeit auf diese Reize.“ Zeitgleich werden limbische Regionen des Gehirns aktiv, die die emotionalen Prozesse regulieren und eventuell mit der Verwunderung des Tieres im Zusammenhang stehen, dass es keine Belohnung bekommt, obwohl es glaubt, alles richtig gemacht zu haben. Darüber hinaus scheint das Taubengehirn durch eine Phase der Restrukturierung seines Handlungsprogramms zu laufen, sodass motorische Regionen aktiv werden. Das ergibt Sinn, weil das Tier nicht mehr auf den vormals belohnten Reiz reagieren muss.

Unsere Studien zeigen, dass es einen Kern des Extinktionslernens gibt, der von Menschen bis Tauben reicht.

— Onur Güntürkün

„Unsere Studien zeigen, dass es einen Kern des Extinktionslernens gibt, der von Menschen bis Tauben reicht“, folgert Onur Güntürkün. „Der wichtigste Auslöser für das Extinktionslernen ist der Vorhersagefehler. Er trat bei sämtlichen Arten auf, die bisher untersucht wurden. Er ist ein Wecksignal, das die meisten Bereiche des Gehirns durchpflügt und nach und nach die Art und Weise verändert, wie die Nervenzellen auf wechselnde Bedingungen reagieren.“ Die Regionen, die in ihren Kodierungsprozessen verändert werden, sind bei Vögeln und Säugetieren zum Teil identisch. Der präfrontale Kortex zur Entscheidungsfindung, der Hippocampus für das Kontextgedächtnis und die Amygdala zur Emotionskodierung scheinen ein unverzichtbares Trio zu sein, das bei diesen fernen Verwandten in ähnlicher Weise vorkommt.

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„Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie ist es nun möglich, das Extinktionslernen im gesamten Gehirn eines nichtmenschlichen Lebewesens zu untersuchen“, sagt Güntürkün. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Fokussierung auf einzelne Regionen nicht zielführend ist, da sie nur einen kleinen Teil der Prozesse im Gehirn abdeckt. Es ist genauso wichtig, sich darauf zu konzentrieren, wie sich die Verarbeitung in sensorischen Arealen verändert, wie die gesamten Handlungsprozesse umgearbeitet werden und wie diese Veränderungen über weite Teile des Gehirns koordiniert werden.“

Neue Ansatzpunkte für Angsttherapien

Extinktionslernen umfasst den größten Teil des Gehirns, und der Vorhersagefehler führt zu einer massiven Veränderung in der Interaktion verschiedener Areale. Diese Erkenntnisse eröffnen Ansätze, an vielen verschiedenen Stellen therapeutische Prozesse für Menschen zu entwickeln, die aus ihrer Angst nicht herausfinden, weil das Extinktionslernen bei ihnen nicht richtig funktioniert. Die Bochumer Tauben werden weiterhin helfen, diese Prozesse zu verstehen – und sich dabei noch viele leckere Futterpellets verdienen.

Auf den Kontext kommt es an

Angemessenes Verhalten hängt vom Kontext ab. Was in einer Situation passend ist, kann in anderen Situationen völlig unangebracht sein. Aber was genau ist Kontext? Das Team um Prof. Dr. Jonas Rose erforscht in einem anderen Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs 1280 den Kontext mit Tauben, Krähen und Dohlen. Das Team der Arbeitsgruppe „Neuronale Grundlagen des Lernens“ bringt Tauben gewisse Verhaltensweisen bei, die die Tiere anschließend wieder ablegen sollen. Findet dieses Extinktionslernen in einem bestimmten Kontext statt, zeigen die Tiere das nun unerwünschte Verhalten nur in diesem Kontext nicht mehr. In anderen Kontexten kann das Verhalten jedoch wieder auftreten – ein Phänomen, das die Forschenden als Renewal (englisch für Erneuerung) bezeichnen.

„Unter einem Kontext versteht man intuitiv einen Ort, zum Beispiel einen Raum oder einen bestimmten Hintergrund“, sagt Jonas Rose. „Wir haben mit unseren Experimenten jedoch gezeigt, dass jeder Reiz zum Kontext werden kann – auch ein kleiner visueller Stimulus, der beim Extinktionslernen anwesend ist.“ Jedoch können minimale Änderungen an diesem Reiz – etwa wenn der visuelle Stimulus eine Sekunde später aufleuchtete – im Experiment die Lernregeln ändern und dazu führen, dass die Tiere den Reiz nicht mehr als Kontext wahrnahmen. Dies zeigt, dass Kontext eine erlernte Eigenschaft ist, keine physikalische.

The jackdaw is classified as a corvid.

© Roberto Schirdewahn

In weiteren Studien möchte das Team von Jonas Rose noch mehr über die Kontextabhängigkeit herausfinden, zum Beispiel, ob auch der soziale Kontext das Extinktionslernen beeinflusst. Schon seit Längerem erforscht die Gruppe soziale Kommunikation und Aufmerksamkeit bei Dohlen. „Diese Krähenvögel sind sehr schlaue Tiere, deren Intelligenz vergleichbar mit der von höheren Säugetieren ist“, so Rose.

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Veröffentlicht

Mittwoch
18. Dezember 2024
09:57 Uhr

Dieser Artikel wird am 7. Januar 2025 in Rubin Extinktionslernen 2025 erscheinen.

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