Interview Das erste Menschenrecht
Wer war Martin Luther und was hat er hinterlassen? Manfred Schneider schildert die Sicht eines Literatur- und Medienwissenschaftlers.
Was verbinden Sie mit Martin Luther?
Martin Luther war für mich einer der ersten Intellektuellen und Wissenschaftler moderner Prägung. Er machte sich unabhängig von der institutionellen Autorität der Universitäten, der Konzile, des Staates und folgte dem eigenen Urteil und Gewissen. Er entwickelte seine eigene Sprache in den Medien seiner Zeit. An diese Öffentlichkeit richtete er sich in der Gewissheit, dass die (irdische) Vernunft nur aus dem Diskurs hervorgeht. Dabei blieb er ein Skeptiker, der alle Überzeugungen auch wieder in Zweifel zog.
Was war Ihrer Meinung nach die bedeutendste Folge der Reformation, die unsere Gesellschaft heute noch prägt?
Die moderne Welt ist in ihren Grundlagen protestantisch. Dass jede Person gleichen Zugang zu Gottes Wort haben soll, war das erste Menschenrecht. Wer das leugnet, schrieb Luther, „… der lästert Christus und sein Wort – gleich ob er Papst, Kaiser, Fürst oder gar der Teufel selbst ist.“ Die Menschenrechte prägen unsere Gesellschaft, nicht nur weil wir sie haben, sondern weil überall Fürsten und Teufel in neuer Gestalt auftreten und wir gegen sie auftreten müssen.
Was glauben Sie, wie sich die christliche Kirche in Zukunft verändern wird?
Die christlichen Kirchen stehen in dem Zwiespalt, zeitlose Verheißungen, Pflichten und Werte zu vertreten, ihre Sprachen und Liturgien aber auch der Zeit anzupassen. Unter den Versprechungen und Bequemlichkeiten der technischen Moderne werden die religiösen Bedürfnisse vieler Menschen weiter narkotisiert; das Leid auf dem Globus aber wird zunehmen. Die Kirchen werden kleiner, umso überzeugender können sie für die unerlöste Welt sprechen.