Anfragen zum Thema Bildungsrecht landen häufig bei Jörg Ennuschat. © RUB, Marquard

Interview NRW und die Probleme mit dem Turboabi

Jurist Jörg Ennuschat über das Hin und Her im Streit um das Abitur nach acht Jahren.

Bildungsrecht ist eigentlich nur sein Hobby. Trotzdem ist Prof. Dr. Jörg Ennuschat ein gefragter Experte auf dem Gebiet. Warum das Abi nach acht Jahren für manche Schulen reizvoll sein kann, was bei der Einführung in NRW schiefgelaufen ist und wieso er eine Einheitsschule nicht für sinnvoll hält, erzählt der Jurist im Interview.

Prof. Ennuschat, das Abitur nach acht Jahren, G8, hat es nicht geschafft, populär zu werden. Was ist schiefgelaufen bei der Einführung?
In den neuen Bundesländern ist G8 völlig selbstverständlich und läuft auch unproblematisch. In Nordrhein-Westfalen ist das Abitur nach acht Jahren nie so richtig populär geworden, vielleicht auch zum Sündenbock für manches geworden, was eigentlich aus anderen Gründen in den Schulen schiefgelaufen ist.

Ein zweiter Grund für die Unpopularität könnte sein, dass der Stoff am Anfang der Gymnasialzeit verdichtet wurde, indem zum Beispiel die zweite Fremdsprache schon in der Klasse sechs eingeführt wurde. Dadurch wird der Wechsel von der Grundschule zum Gymnasium für manche Schülerinnen und Schüler schwieriger. G8 hat außerdem den Schultag in den Nachmittag hinein verlängert. Dadurch haben weniger Schülerinnen und Schüler Zeit für Konfirmandenunterricht, Sportverein oder Musikschule.

In NRW ist angedacht, dass Schulen, die bei G8 bleiben wollen, einen Antrag stellen müssen. Sonst kehren sie ab 2019/20 automatisch zu G9 zurück. Kann man den Schulen da nicht gleich freie Wahl lassen?
Ob es wirklich so kommt, wissen wir nicht. Es gibt noch kein Gesetzgebungsverfahren. Ich würde eine solche Vorgabe aber für sinnvoll halten. Die Frage nach G8 oder G9 kann zu Streit in einer Schule führen. Eine klare Vorgabe – es ist G9, es sei denn, alle sind sich einig, sie wollen G8 – könnte friedensstiftend wirken. Die meisten NRW-Schulen werden wohl zu G9 zurückkehren. Für manche könnte G8 aber durchaus reizvoll sein.

Mit G8 könnte man versuchen, eine Art Eliteschule zu werden.

Warum?
Weil G8 Schülerinnen und Schüler aus Familien mit nicht so exzellentem Bildungshintergrund abschrecken könnte. Dadurch würde man automatisch eine relativ homogene Schülerschaft anziehen und könnte versuchen, eine Art Eliteschule zu werden. Schon jetzt wird von einigen Beobachtern kritisiert, dass manche Schulen sich gezielt einen Schwerpunkt setzen – zum Beispiel altsprachlich –, der unattraktiv für solche Schülergruppen sein soll, die diese Schule nicht so gerne haben möchte. Ein Problem, das man im Auge behalten muss.

Es gibt schon so viele Schulformen. Mit G8 und G9 gäbe es dann auch noch zwei parallele Abiturformen.
In NRW gibt es wirklich sehr viele Schulformen. Aber Schulvielfalt ist etwas Wichtiges, das steht auch in der Landesverfassung. Die Kinder sind unterschiedlich, die elterlichen Vorstellungen sind unterschiedlich – wir leben in einer pluralen Gesellschaft. Man muss sich schon fragen, ob eine Einheitsschule mit Einheitslösungen die richtige Antwort auf eine solche Gesellschaft sein kann.

Und: Durch die Schulvielfalt konnte man den politischen Frieden leichter erreichen. Seit den 1970er-Jahren stritten die Parteien, ob das dreigliedrige Schulsystem bleiben soll oder ob eine Gesamtschule eingeführt werden soll. Heute finden sich die Vorstellungen fast aller Parteien in unserem Schulsystem wieder.

Man hat den Eindruck, dass die Bevölkerung kein ewiges Hin und Her im Schulsystem wünscht.
Das sehe ich auch sehr skeptisch. Für die Schulen ist es nicht gut, wenn immer neue Lehrpläne ausgedacht und angewendet werden müssen oder der Schulbetrieb neu organisiert werden muss. Dann ist die Schule zu sehr mit sich selbst beschäftigt und nicht mit dem Unterricht.

Was bedeuten die Veränderungen für die knappen Kassen der NRW-Kommunen?
Wenn eine Kommune durch das Land neue Aufgaben bekommt, hat sie einen Anspruch darauf, dass das Land die Zusatzkosten zahlt. Das hat NRW im Fall von G8/G9 auch in Aussicht gestellt.

Die Themen kommen in der Regel auf Zuruf zu mir.

Betrifft Sie das Thema G8/G9 in Ihrer täglichen Arbeit?
Als G8 eingeführt wurde, war ich als Sachverständiger in den Landtag von NRW eingeladen, eine Stellungnahme abzugeben. Danach habe ich mich mit dieser Frage aber nicht mehr befasst. Mit anderen Fragen aus dem Schulrecht beschäftige ich mich aber häufig. Die Themen kommen in der Regel auf Zuruf zu mir, zum Beispiel wenn ich gebeten werde, Vorträge zu halten, Gutachten zu erstellen oder eine Prozessvertretung zu übernehmen.

Das heißt, Sie suchen Ihre Forschungsthemen gar nicht selbst aus?
Leider viel zu selten. Ich greife meist Anstöße von außen auf. Das macht aber auch Spaß, weil es immer praxisrelevante Fragen sind, die an mich herangetragen werden. Es gibt in Deutschland nur wenige Schul- und Bildungsrechtler. An der RUB haben wir gleich mehrere. So leitet mein Kollege Professor Wolfram Cremer das sehr renommierte Institut für Bildungsrecht und Bildungsforschung. Für mich ist das Thema eigentlich eher ein Hobby. Aber es landen immer wieder Anfragen bei mir, sodass ich nach und nach wohl doch zu einem Schulrechtler geworden bin.

Zur Person

Jörg Ennuschat hat an der RUB die Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht inne. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Öffentliche Wirtschaftsrecht. Er promovierte 1995 zu einem Thema aus dem Staatskirchenrecht, kam später über Arbeiten zum Religionsunterricht zum Schulrecht und etablierte sich schließlich als Experte für Bildungsrecht. Ein weiteres Thema, das er neben seinem eigentlichen Schwerpunkt behandelt, ist das Glücksspielrecht.

Gäbe es denn ein Thema, das Sie besonders interessieren würde?
Es ist eine gewisse Internationalisierung des Bildungswesens zu beobachten, die meist auch mit einer Kommerzialisierung einhergeht. In Deutschland ist Bildung ein Wert an sich und keine Ware. Von außen dringt aber die Idee „Bildung als Ware“ zu uns herüber. Damit würde ich mich gern intensiver auseinandersetzen. Man kann sich sowieso fragen, ob eigentlich der Staat für Bildung sorgen muss oder die Gesellschaft, welche letztendlich auch nach den Gesetzen des Marktes funktioniert. Vielleicht gibt es auch noch mehr Raum für Public Private Partnership im Schulrecht – auch ein Thema, zu dem ich forschen will.

Veröffentlicht

Freitag
10. November 2017
09:23 Uhr

Von

Julia Weiler

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