Interview Das große Artensterben als Motor für die Biodiversität

Aus erdgeschichtlicher Perspektive wäre ein sechstes Massensterben nicht so dramatisch. Es gibt jedoch ein großes Aber.

Ein Bericht des Weltbiodiversitätsrats über das aktuelle Artensterben hat 2019 für Aufsehen gesorgt. Demnach könnten eine Million aller Tier- und Pflanzenarten innerhalb der nächsten Jahrzehnte von unserem Planeten verschwinden. Bereits fünfmal zuvor stand das Leben auf der Erde am Rande der Vernichtung. Diese Massensterben behandelt RUB-Paläontologe Prof. Dr. Jörg Mutterlose in seinen Vorlesungen und Lehrbüchern. Wie das aktuelle Massensterben aus einer erdgeschichtlichen Perspektive einzuordnen ist und ob ein neues erdgeschichtliches Zeitalter ausgerufen werden sollte, erzählt der Forscher im Interview.

Professor Mutterlose, im Frühjahr 2019 war in allen Medien vom sechsten Massensterben zu lesen. Wie definiert ein Paläontologe ein Massensterben und ist schon klar, dass es wieder dazu kommen wird?
Um von einem Massensterben zu sprechen, müssen die Arten schnell – also innerhalb von 10.000 bis 100.000 Jahren – zugrunde gehen, und zwar nicht nur einzelne Arten, sondern ganze Gruppen von Organismen an Land und in den Ozeanen. Wenn der Eisbär ausstirbt, ist das bedauerlich, aber kein Massensterben. Wenn aber beispielsweise alle Primaten – also Affen und verwandte Formen inklusive des Menschen – verschwinden und auch viele andere Gruppen sowohl auf dem Festland als auch im Meer, dann können wir von einem Massensterben sprechen. Aktuell ist klar, dass es mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu kommen wird.

Wenn wir den Menschen für sehr wichtig halten, dann rufen wir das Anthropozän aus.

Die Gründe dafür sind scheinbar menschgemacht. Müssen wir ein neues Zeitalter einläuten?
Es wird diskutiert, eine neue Zeitperiode auszurufen, das Anthropozän, also das vom Menschen beeinflusste Zeitalter. Aus geologischer Perspektive halte ich das für wenig sinnvoll, weil die Zeitspanne des menschlichen Einflusses dafür zu kurz ist. Alle anderen Zeitalter sind um ein Vielfaches länger. Klar ist aber auch, dass es durch den Menschen zu Einschnitten kommt. Es ist eine Frage der Perspektive. Wenn wir den Menschen für sehr wichtig halten und ihm eine besondere Position in der Natur zuordnen, dann rufen wir das Anthropozän aus. Wenn wir uns von dieser Sichtweise lösen und den Menschen als Teil eines natürlichen Systems sehen, dann läuten wir kein neues Zeitalter ein – denn zum Start des Holozäns, also des Zeitalters, in dem wir heute leben, hat es viel einschneidendere Umbrüche gegeben, als der Mensch sie heute verursacht. Mit dem Holozän endete die letzte Eiszeit, und es begann eine Phase der Erwärmung.

Wie unterscheidet sich das aktuelle Artensterben von den früheren?
Das heutige Artensterben vollzieht sich relativ rasch; die früheren Ereignisse erstreckten sich über zehntausende Jahre bis hin zu hunderttausend Jahren. Der aktuelle Niedergang der Arten hat vor rund 300 Jahren mit der Industrialisierung eine enorme Geschwindigkeit aufgenommen. In diesem Zeitraum explodierte auch die Bevölkerungszahl auf der Erde.

Je mehr Menschen, desto weniger Arten?
Für ein Lehrbuch habe ich die Kurven des menschlichen Bevölkerungswachstums und des Artensterbens übereinandergelegt. Zur Zeit des Römischen Reiches gab es schätzungsweise 170 Millionen Menschen auf der Erde. Bis ins Mittelalter blieb die Zahl relativ stabil, wobei der Pestausbruch eine deutliche Delle verursacht hat. Um 1800 haben wir die erste Milliarde erreicht, 1920 die zweite Milliarde. Heute sind wir bei rund 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde. Als die Bevölkerungszahl zwischen 1800 und 1900 stark anstieg, beschleunigte sich auch das Artensterben.

Es gibt also mehr Menschen, als der Planet verkraften kann?
Zumindest sind es zu viele Menschen für die Ressourcen, die der Planet zur Verfügung stellt. Das System ist aus dem Gleichgewicht geraten. Daher frage ich mich, inwiefern die Maßnahmen, die die Politik heute zum Schutz der Umwelt diskutiert, wirklich helfen können. Natürlich müssen wir den CO2-Ausstoß in den Griff kriegen und den Plastikkonsum eindämmen – das steht außer Frage.

Das würde Verzicht für die heutigen Konsumgesellschaften bedeuten.

Aber immer mehr Menschen verbrauchen natürlich immer mehr Ressourcen. Und warum sollten nicht alle Auto fahren und Fleisch essen dürfen? Warum sollten aufstrebende Nationen nicht das gleiche Recht haben, eine solche Konsumgesellschaft zu errichten wie wir? Dieses Recht kann man niemandem absprechen, aber die Ressourcen dafür sind auf der Erde nicht vorhanden. Wenn der Planet so viele Menschen verkraften können soll, müssen alle Menschen lernen, mit einfacheren Systemen klarzukommen. Das würde Verzicht für die heutigen Konsumgesellschaften bedeuten.

Ich muss allerdings betonen, dass ich weder Zukunfts- noch Klimaforscher bin, auch kein Sozial- oder Wirtschaftswissenschaftler. Als Paläontologe kann ich nur sagen, dass heute sicher keine Gleichgewichtsbedingungen mehr auf der Erde herrschen.

Früher war das System im Gleichgewicht?
Es gibt die Theorie, dass sich Phasen stabiler Biodiversität und des Aussterbens in der Erdgeschichte abgewechselt haben und dass das System dabei auf lange Sicht häufig in einer Art Gleichgewichtszustand war. Auch nach den Massensterben ging das Leben immer weiter. Eigentlich hat es sich danach sogar explosionsartig entfaltet, weil plötzlich viele Nischen vorhanden waren. Uns Menschen würde es ohne das fünfte Massensterben, das die landlebenden Dinosaurier vernichtet hat, gar nicht geben; erst danach kamen die Säugetiere zum Zuge.

Was bedeutet das auf unsere aktuelle Situation übertragen?
Wenn es zu einem signifikanten Massensterben kommt, dann wird es danach auch wieder eine Explosion der Biodiversität geben. Die schlechte Nachricht ist: Davon würden aller Voraussicht nach Tiergruppen profitieren, die den Planeten derzeit nicht dominieren. Es könnte gut sein, dass auch der Mensch dabei auf der Strecke bleibt.

Aus erdgeschichtlicher Perspektive wäre ein Massensterben also gar nicht so dramatisch. Aus Sicht der Gattung Homo könnte die Entwicklung hingegen fatal sein.

Erstes Massensterben: Als an Land noch nichts los war

Das erste Massensterben ereignete sich vor rund 450 Millionen Jahren, in einem Zeitalter namens Ordovizium, und dauerte rund 100.000 Jahre an. Damals gab es weder Pflanzen noch Tiere an Land, aber die Lebewesen im Meer wurden massiv dezimiert – wahrscheinlich, weil sich die Temperaturen damals über lange Zeit abkühlten. Eine alternative Hypothese besagt, dass verstärkte vulkanische Aktivität die Ozeane verseuchte. Die meisten betroffenen Organismengruppen starben allerdings nicht endgültig aus, sondern erholten sich wieder.

Zweites Massensterben: Ursache unbekannt

Vor rund 370 Millionen Jahren, im Devon, kam es erneut zu einem Massensterben unter den marinen Lebewesen. Wie beim ersten Massensterben gingen die meisten Gruppen nicht endgültig verloren, sondern wurden nur stark dezimiert. Viele von ihnen verschwanden jedoch später in den Zeitaltern Perm und Trias endgültig von der Erde. Die Ursache für das Massensterben im Devon ist weitestgehend unbekannt.

Drittes Massenaussterben: Diesmal endgültig

Das Massensterben an der Perm-/Triasgrenze vor etwa 250 Millionen Jahren war der signifikanteste Einschnitt für das Leben auf der Erde bislang. Schätzungsweise 80 bis 90 Prozent aller Arten starben aus, Fauna und Flora wandelten abrupt ihr Gesicht. Es gibt Hinweise darauf, dass zu der Zeit verstärkter Vulkanismus herrschte und sich die Atmosphäre durch vulkanische Asche verdunkelte. Weniger Sonnenstrahlung drang zur Erdoberfläche durch, es wurde kühler; 10 bis 100 Jahre herrschte ein sogenannter nuklearer Winter. Viele Primärproduzenten – also Organismen wie mehrzellige Pflanzen und Algen, die mittels Fotosynthese Biomasse herstellen – gingen in die Knie, was anderen Gruppen die Nahrungsgrundlage entzog. Auf die Abkühlung folgte eine starke Temperaturerhöhung, und möglicherweise wurde Methan aus den Ozeanböden freigesetzt, was die Erhitzung weiter antrieb. Der Meeresspiegel ging zurück und Schelfbereiche fielen trocken. Da es zu der Zeit nur einen Superkontinent und einen Ozean auf der Erde gab, waren die Lebensräume einheitlich – ein Nachteil für die Biodiversität.

Viertes Massenaussterben: Das größte Fragezeichen

Am Ende der Triaszeit, vor rund 200 Millionen Jahren, kam es zum vierten Massensterben, dessen Ursache vollkommen ungeklärt ist. Allerdings starben die Organismengruppen nicht nachhaltig aus, sie erholten sich in der Folge wieder.

Fünftes Massenaussterben: Der prominenteste Artenuntergang

Das bekannteste Artensterben ereignete sich vor 66 Millionen Jahren am Ende der Kreidezeit, als die landlebenden Dinosaurier ausstarben. Auslöser – so die am besten belegte Theorie – war ein Meteoriteneinschlag, der Staub aufwirbelte und die Atmosphäre verdunkelte. Viele Primärproduzenten, die die Nahrungsgrundlage aller anderen Organismen sind, starben aus, weil ihnen das Licht für die Fotosynthese fehlte. Damit war auch der Rest der Nahrungskette betroffen. Es gibt Hinweise, dass es vielen Gruppen bereits vor dem Meteoriteneinschlag schlecht ging, der Verdunkelungsprozess gab dem bereits angeschlagenen ökologischen System den Rest. Parallel könnte es außerdem eine Temperaturerhöhung durch verstärkte vulkanische Aktivität gegeben haben. Das fünfte Massensterben war ein harter Einschnitt in der Erdgeschichte, der letztendlich aber den Grundstein für den Aufschwung der Säugetiere legte.

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Veröffentlicht

Montag
05. August 2019
14:27 Uhr

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 4. November 2019 in Rubin 2/2019 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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