Most prejudice-motivated acts of violence are carried out without the means to commit the crime. © Roberto Schirdewahn

Sozialwissenschaft Wie aus Hass Worte und Taten werden

Wer begeht rassistische Gewalttaten und was passiert dabei?

Schubsen, Hand- und Faustschläge, Tritte, Schläge, Messerangriffe, Brandstiftungen: Hassgewalt kann viele Gesichter haben. Welche das sind, wie die Taten ablaufen und wer die Taten begeht, untersucht ein Forschungsteam der RUB. „Die Besonderheit ist dabei, dass wir Tathandlungen und Tatabläufe, also auch Interaktionen, bei einer großen Zahl an Taten detailliert erfassen, um mehr über Gewaltdynamiken zu erfahren“, sagt Prof. Dr. Cornelia Weins, Inhaberin des Lehrstuhls Empirische Sozialforschung. „Was passiert genau? Wie reagieren die Angegriffenen und was tun Personen, die Angriffe beobachten, also beispielsweise Passanten oder Anwohner?“

Fokus rassistische Gewalttaten

Weins und ihr Projektteam, die Promovierenden Juliana Witkowski und Sebastian Gerhartz sowie Kai-David Klärner, untersuchen rassistische Gewaltstraftaten in Nordrhein-Westfalen zwischen 2012 und 2019: „Unter rassistischen Straftaten verstehen wir Straftaten aufgrund von Vorurteilen gegenüber ethnischen beziehungsweise nationalen Gruppen, Menschen nicht-weißer Hautfarbe und religiösen Gemeinschaften – bei letzteren sind es vor allem antisemitische und islamfeindliche Taten“, erklärt Sebastian Gerhartz. Die Angriffe richten sich meistens gegen Menschen, die als Angehörige dieser Gruppen wahrgenommenen werden. Aber auch Menschen, die sich für diese Gruppen einsetzen, können zur Zielscheibe rassistischer Gewalt werden, wie bei den Attentaten auf Henriette Reker oder Andreas Hollstein in Nordrhein-Westfalen. Das RUB-Team untersucht dabei die Straftaten, die im Rahmen der offiziellen Erfassung politisch motivierter Kriminalität als Gewaltdelikte eingeordnet werden – von einfachen Körperverletzungen bis zu Brandanschlägen und versuchten Tötungsdelikten. „Dadurch bekommen wir neben potenziell lebensbedrohlichen und schweren Angriffen auch Angriffe mit geringerer Gewaltintensität in den Blick, die als Alltags-Hassgewalt charakterisiert werden können“, erklärt Gerhartz.

Attentate auf Politiker

Henriette Reker, heute Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, wurde 2015 Opfer eines Messerattentats. Der rechtsextremistische Täter hatte sie angegriffen, da sie als Beigeordnete für Soziales, Integration und Umwelt der Stadt Köln auch für die kommunale Unterbringung von Flüchtlingen im Rahmen der Flüchtlingskrise in Deutschland zuständig war.

Andreas Hollstein war Bürgermeister der Stadt Altena, als 2017 ein Messerattentat auf ihn verübt wurde. Der Angreifer hatte sich zuvor abfällig über Hollsteins liberale Flüchtlingspolitik geäußert.

Datenerhebung noch laufend

Die Arbeit findet im Rahmen des Forschungsnetzwerks „Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia“, kurz CoRE NRW, statt. Es wird vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen bis 2023 gefördert. Für ihre Studie nehmen die Forschenden Einsicht in Dokumente eines kriminalpolizeilichen Meldedienstes zu allen von der Polizei zwischen 2012 und 2019 als Hassgewalt registrierten Taten und in staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten für Fälle mit ermittelten Tatverdächtigen. „Mit den Ergebnissen unseres Projektes können wir Aussagen über alle den Ermittlungsbehörden bekannten und als Hassgewalt erfassten Taten in Nordrhein-Westfalen treffen“, so Weins. Für 2017 bis 2019 läuft die Datenerhebung noch. Für 2012 bis 2016 liegen erste Ergebnisse für insgesamt 800 rassistische Gewalttaten aus den Polizeidokumenten und zu mehr als 400 aufgeklärten Taten aus Ermittlungsakten vor.

Detaillierter Einblick ins Tatgeschehen

Polizeidokumente und Akten enthalten offene Beschreibungen der Taten. Diese sind für die Forschenden von besonderem Interesse. Hieraus erfahren sie, wie sich die Tat abgespielt hat. „Wir gewinnen aus den freitextlichen Darstellungen standardisierte Informationen über das Tatgeschehen und werten diese dann statistisch aus“, sagt Gerhartz. Nach Einschätzung des RUB-Teams handelt es sich bei den meisten Taten um Initiativtaten der Angreifenden, bei denen eine Eskalation gewollt ist oder in Kauf genommen wird. Angreifer und Opfer kennen sich dabei in der Regel nicht.

The team from RUB Social Science: Cornelia Weins, Sebastian Gerhartz, Kai-David Klärner and Juliana Witkowski (from left) © RUB, Marquard

„Sehr oft fängt es mit einer Beschimpfung oder Beleidigung an“, berichtet Juliana Witkowski, „häufig richtet sich diese gegen die vermutete Herkunft der Opfer, deren Hautfarbe oder Religion.“ Die gewaltsamen Angriffe reichen von Schubsen und Rempeln, Bespucken, Hand- und Faustschlägen, Tritten, Würgen, Schlägen mit Knüppeln oder anderen Gegenständen, dem Werfen von Glasflaschen bis hin zu Messerstichen, dem Beschuss mit Steinen oder Munition, Brandstiftungen und Sprengstoffanschlägen. Letztere richteten sich im Beobachtungszeitraum vor allem gegen Unterkünfte von Geflüchteten. Zahlenmäßig dominieren Angriffe ohne Tatmittel, insbesondere Hand- und Faustschläge. Bei den Opfern überwiegen Schutzreaktionen: Sie versuchen, Hilfe zu holen beziehungsweise auf ihre Situation aufmerksam zu machen, den Tatort zu verlassen und die Situation zu deeskalieren. Bei etwas mehr als der Hälfte der Taten wehren sich die Opfer verbal und in knapp der Hälfte der Taten setzen sich die Opfer auch körperlich zur Wehr. Wenn dritte Personen eingreifen, dann holen sie Hilfe, stehen dem Opfer bei, versuchen zum Beispiel durch das Beschwichtigen von Angreifenden die Situation zu deeskalieren oder schreiten zum Schutz der Opfer auch körperlich ein. Derzeit untersucht das Team, ob sich Interaktionsmuster und Kontextfaktoren identifizieren lassen, die mit unterschiedlichen Gewaltdynamiken einhergehen.

Hassgewalt kein Jugendphänomen mehr

Das Team wollte außerdem mehr über die Täterinnen und Täter wissen: Wer begeht Hassverbrechen? Ein markanter Unterschied zu früheren Studien ist das Alter. Waren zu Beginn der 2000er-Jahre nach einer Studie für Nordrhein-Westfalen noch etwas mehr als 70 Prozent der Täterinnen und Täter jünger als 25 Jahre, so sind es im Zeitraum 2012 bis 2016 lediglich 40 Prozent. „Rassistische Gewalt kann nicht mehr als Jugendphänomen beschrieben werden“, so das Fazit des Forschungsteams.

Nach wie vor ist rassistische Gewalt männlich geprägt, Täterinnen sind selten. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung fallen niedrigere Bildungsabschlüsse und eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit auf. Die Forschung benennt dissoziales Verhalten und Gewaltaffinität als Risikofaktoren für Radikalisierung: „Bei einem nennenswerten Teil der Tatverdächtigen liefern die Akten Hinweise auf frühere Verurteilungen wegen Gewaltdelikten“, sagt Witkowski, „und bei der Mehrheit der Tatverdächtigen hat die Polizei Vorerkenntnisse zu Allgemeinkriminalität und/oder politisch motivierter Kriminalität.“ Die ersten Ergebnisse des Forschungsteams zu den Hintergründen der Tatverdächtigen liefern für Nordrhein-Westfalen allerdings keine Anhaltspunkte dafür, dass im Kontext der Fluchtzuwanderung und deren rechtspopulistischer Mobilisierung in den Jahren 2015/16 vermehrt Menschen aus der sozialen Mitte der Gesellschaft rassistische Gewalttaten verüben.

Ein großes, rechtes Täternetznetzwerk im ersten Untersuchungszeitraum

Das Forschungsteam hat zudem untersucht, ob die Tatverdächtigen in Netzwerke eingebunden sind. Für den Zeitraum 2012 bis 2016 konnten einige kleinere und insbesondere ein großes Netzwerk von organisierten, rechten Tatverdächtigen identifiziert werden, die über gemeinsam begangene Taten verbunden sind. Die aus diesen Netzwerken heraus von Tätern aus organisierten rechten Szenen begangenen Gruppentaten prägen die Vorstellungen, die wir von rassistischer Gewalt haben, noch immer sehr stark. Die Ergebnisse des Forschungsteams zeigen aber auch, dass gewalttätige Angriffe und rassistische Gewalttäter diesem Bild nicht unbedingt entsprechen müssen.

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Veröffentlicht

Freitag
11. März 2022
09:10 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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