Iran „Wir haben alle ein Ziel: den Sturz der Diktatur“
Neda Darabian und Kianoosh Rezania äußern sich zu den Ausschreitungen und Protesten in Iran.
In Iran sind Menschenrechtsverletzungen und Übergriffe auf junge Frauen derzeit an der Tagesordnung. Die Proteste im Land ziehen immer größere Kreise. Auch in Deutschland zeigen sich die Menschen erschüttert über das, was dort gerade passiert. Neda Darabian ist Iranerin und arbeitet als Doktorandin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) an der Ruhr-Universität Bochum. Zusammen mit Dr. Kianoosh Rezania, Professor für Westasiatische Religionswissenschaften am CERES, beurteilt sie die derzeitige politische Lage.
Frau Darabian, wie sehen Sie als in Deutschland lebende Iranerin die Geschehnisse in Iran?
Darabian: Ich denke, was derzeit in Iran passiert, begann zunächst mit einer Vielzahl unterdrückter Frauen, die einfach nur für die Freiheit protestierten, um selbst zu entscheiden, was sie anziehen. Diese Proteste entwickeln sich gerade zu einer Revolution, die von ihnen angeführt wird. Jeden Tag riskieren mutige Iranerinnen und Iraner ihr Leben, indem sie auf die Straße gehen, um gegen das Regime zu protestieren. Zahlreiche Frauen legen ihren Hidschab, also ihr Kopftuch, in der Öffentlichkeit ab und nehmen dabei alle Arten von sexueller Belästigung, körperlicher Brutalität und sogar Inhaftierung in Kauf. Studentinnen schwenken ihre Kopftücher in der Luft, sprechen sich gegen die politisch-religiöse Führung des Landes aus und riskieren damit ihre Möglichkeit auf Ausbildung.
Das Wichtigste an dieser Bewegung ist, dass sich alle Iranerinnen und Iraner gegen die Diktatur vereinigen.
Kianoosh Rezania
Herr Professor Rezania, wie schätzen Sie die derzeitige Lage in Iran ein?
Rezania: Es macht mich traurig, gibt mir aber gleichzeitig auch Hoffnung. Einerseits hofft man auf ein Ende der Unterdrückung, andererseits ist man von der Gewaltbereitschaft und Brutalität des Regimes gegenüber dem eigenen Volk entsetzt. Das Wichtigste an dieser Bewegung ist, dass sich alle Iranerinnen und Iraner gegen die Diktatur vereinigen, ganz gleich ob Perserinnen und Perser, Kurdinnen und Kurden oder Balutschinnen und Balutschen. Wir haben alle ein Ziel: den Sturz der Diktatur!
Irans Präsident Ebrahim Raisi kündigte die Überprüfung von Gesetzen an. Er sehe es als notwendig an, einige der im Land geltenden Gesetze „zu überprüfen, zu überarbeiten, zu aktualisieren und gegebenenfalls auch zu revidieren.“ Herr Professor Rezania, was erhofft man sich von dieser Aussage?
Rezania: Absolut nichts! Diese Aussage des Präsidenten höre ich tatsächlich zum ersten Mal. Damit möchte ich nicht sagen, dass sie unwahr ist, sondern, dass solche Behauptungen keinen Zugang mehr zum politisch-gesellschaftlichen Diskurs finden, besonders wenn eine solche Aussage von einer Person getroffen wird, die weder innerhalb des politischen Machtspiels noch beim Volk Autorität besitzt.
Gemeinsam stehen sie dort und fordern ein Leben ohne Unterdrückung.
Neda Darabian
Frau Darabian, welches konkrete Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie derzeit an Ihre Heimat denken?
Darabian: Die lauten, durchdringenden Sprechchöre auf den Straßen. Studentinnen und Studenten versammeln sich tagtäglich vor den Universitäten und singen für ihre Freiheit und für mehr Toleranz. Die Männer rufen: Frauen! Leben! Freiheit! (زن زندگی آزادی)! und die Frauen singen: Männer! Heimat! Wohlstand! (مرد میهن آبادی)! Das ist ein Bild, das sich mir sehr eingeprägt hat. Gemeinsam stehen sie dort und fordern ein Leben ohne Unterdrückung.
Herr Professor Rezania, hat der Fall von Mahsa Amini die Menschen in Iran erst richtig aufgerüttelt oder war dies nur ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt?
Rezania: Diese Metapher trifft es sehr gut: Die Menschen können diese jahrzehntelange Unterdrückung, Erniedrigung und Korruption nicht mehr ertragen. Jetzt steht eine neue Generation auf, die im Gegensatz zu meiner Generation ein viel höheres Verlangen nach Freiheit hat und sich von der Machtdemonstration des Regimes nicht länger beeindrucken lässt. Ich bin erstaunt über den Mut, besonders der jungen Mädchen und Frauen, bei ihrem Kampf für die Freiheit.
Soziale Netzwerke haben eine Eigendynamik, die auch die Regierung in Iran nicht vollständig kontrollieren kann.
Neda Darabian
Wir in Deutschland haben täglich ungefilterten Zugang zum Internet und den Sozialen Medien. In Iran versucht man offenbar, die Menschen medial zu beeinflussen, um schwere Vergehen an der Bevölkerung, speziell an jungen Frauen, zu vertuschen. Hinzu kommt die Tatsache, dass Soziale Netzwerke und die internationalen Nachrichtendienste die einzigen Nachrichtenquellen sowohl in Iran als auch außerhalb von Iran sind. Frau Darabian, hat die Regierung mit diesen Restriktionen Ihrer Meinung nach dennoch das Gegenteil erwirkt?
Darabian: Nun ja, die Regierung hat zunächst einmal versucht, die Proteste zu verhindern, indem Internetplattformen verboten wurden und ein Zugang zu Sozialen Medien nicht mehr möglich war. Die Idee dahinter, die Menschen durch diese Einschränkung davon abzuhalten, Proteste zu organisieren oder von den Orten zu erfahren, an denen sich die Menschen versammeln, ist gescheitert. Trotz all dieser Bemühungen haben sich Videos und Berichte über die brutale Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten weiterverbreitet. Das liegt sicherlich auch daran, dass uns Soziale Netzwerke mittlerweile sehr viele Möglichkeiten und Schlupflöcher bieten, unsere Meinung öffentlich zu machen oder Videos zu verbreiten. Einen Nachrichtensender kann man bestechen, Soziale Netzwerke hingegen haben eine Eigendynamik, die auch die Regierung in Iran nicht vollständig kontrollieren kann.
Zu den Personen
Kürzlich ging ein Video viral, in dem ein Staatspolizist in der Nähe von Teheran eine junge Demonstrantin festnehmen wollte und ihr dabei unsittlich an den Po fasste. Der Vorfall, der aufgezeichnet wurde und sich blitzartig im Netz verbreitete, konnte von der Polizei nicht dementiert werden. Frau Darabian, wie haben Sie den Vorfall wahrgenommen?
Darabian: Das Video hat mich wütend gemacht, als ich es in den Sozialen Medien gesehen habe. Ich habe es direkt auf Instagram veröffentlicht und dort mit den Worten gepostet: „Ich habe seine Hand auf meinem Hintern gespürt. Sie wird ewig brauchen, um das Gefühl loszuwerden.“ Man hat sich nicht einmal bei der jungen Frau entschuldigt. Ich kann nicht begreifen, dass so etwas am helllichten Tag geschieht und nichts passiert. In Iran werden Frauen tagtäglich auf der Straße sexuell missbraucht, unabhängig von ihrem Alter und der Art ihrer Kleidung.
Kürzlich haben die Pro7-Moderatoren Klaas Häufer-Umlauf und Joko Winterscheidt bei einem Live-Auftritt ihre Instagram-Konten iranischen Aktivistinnen gespendet, um ihnen somit eine hohe Reichweite zu geben. Frau Darabian, meinen Sie, dass eine solche Spende für die Menschen in Iran einen Unterschied macht?
Darabian: Die Spende zeigt auf jeden Fall den hohen Stellenwert, den Soziale Netzwerke heutzutage haben und das enorme Maß an Solidarität, welches mittlerweile auch in Deutschland angekommen ist. Dass Menschen des öffentlichen Lebens ihre Reichweite dafür nutzen, darauf aufmerksam zu machen, dass in Iran so viel Gewalt und Leid passiert, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch können wir durch solche Spenden nur „von außen“ mitwirken. Jede Frau und jedes Mädchen muss das Recht haben, auf die Straße gehen zu können, ohne dass ihr etwas passiert. Wenn uns Soziale Medien dabei helfen können, diese Situation zu ändern, dann sind solche Aktionen nicht umsonst.
Auf diesem langen Weg wird es noch viele Unruhen geben.
Kianoosh Rezania
Herr Professor Rezania, was müsste geschehen, damit sich die Situation wieder beruhigt?
Rezania: Es ist nur die islamische Regierung, die die Situation beruhigen möchte. Das iranische Volk möchte das nicht. Das Einzige, was die Iranerinnen und Iraner beruhigen kann, ist das Ende einer Diktatur, die sich als unverbesserlich erwiesen hat. Auf diesem langen Weg wird es noch viele Unruhen geben.
Nun dauern die Proteste in Iran bereits mehr als 40 Tage an. Was denken Sie beide, wie wird es weitergehen?
Rezania: Dass die Unruhen so lange andauern, gibt uns Hoffnung. Hoffnung, dass den folgenden Generationen in Iran eine bessere Zukunft bevorsteht. Die Situation in Iran ist diesmal völlig anders als vor 43 Jahren beim Sturz des Schah-Regimes. Dennoch wird die Regierung diese Diktatur nicht ohne weiteres aufgeben. Die Machthaber brauchen allerdings internationale Unterstützung, damit ihr System nicht zusammenbricht. Die Weltpolitik sollte die Menschen in Iran in ihrem Kampf gegen die systematische Unterdrückung weiter unterstützen. Nur so können wir tatsächlich etwas verändern.
Vielen Dank für das Gespräch!