In der Masse des unschädlichen Unrats die Goldnuggets finden – diese Metapher stand für die Suche nach den wertvollen Kommentaren unter den nutzlosen Äußerungen. © Roberto Schirdewahn

Medienwissenschaft Vom Goldnugget zum Gift

Die Einführung der Kommentarfunktion hat dem Internet eine völlig neue Dimension verliehen. Die Verheißung lautete: Teilhabe für alle. Die Realität ist eine andere.

Es gibt sie sicher immer noch: die Goldnuggets im großen Fluss von Kommentaren, der das Internet durchströmt – einzelne wertvolle Beiträge, die den Originaltext, unter dem sie erschienen sind, bereichern. Aber die Nuggets schwimmen längst nicht mehr in einem ruhigen Fluss, der niemandem etwas zuleide tut. Oft gehen sie heute unter in einem Strudel aus Beleidigungen, Häme und Bedrohungen.

„Lange war der Onlinekommentar eine euphorisch gefeierte Funktion, die Teilhabe ermöglichen sollte“, sagt Prof. Dr. Johannes Paßmann. Wie sich die Funktion im Lauf der Jahre verändert hat, interessiert den Medienwissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum. Er forscht im Sonderforschungsbereich „Transformation des Populären“, der an der Universität Siegen angesiedelt ist. Gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen Martina Schories und Lisa Gerzen entwickelt er neue Methoden, um die Geschichte des Onlinekommentars aufzuarbeiten.

Daten aus dem Internet Archive

Dabei hilft den Forschenden das Internet Archive, das vielen durch die Wayback Machine bekannt ist. Die Anwendung ermöglicht es, Internetseiten aus der Vergangenheit aufzurufen. Seit 1996 zeichnet das Archiv Millionen von Webseiten zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder auf und speichert die Daten für die Nachwelt. Paßmanns Team interessiert sich vor allem für Webseiten von Onlinemedien und Blogs mit Kommentarfunktion. Allerdings schauen sich die Forschenden nicht die Inhalte der Kommentare an. Sie wollen viel mehr herausfinden, wie sich die Technik selbst und der Umgang damit verändert haben.

Über die Wayback Machine können Internetseiten der Vergangenheit aufgerufen werden. Mit diesen Daten arbeiten die Bochumer Forschenden. © Roberto Schirdewahn

Zu Beginn der Arbeit steht das Team dabei vor einem riesigen Wust an Daten, den sie vom Internet Archive erhalten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler orientieren sich an der Grounded-Theory-Methodologie. Sie wählen zunächst einen bestimmten Datensatz aus, beispielsweise die Webseiten einiger großer deutscher Medien, und durchsuchen diese nach Besonderheiten. Aus den Erkenntnissen ergeben sich neue Hypothesen, für die sie wiederum einen neuen Datensatz anfragen. Dieser kann weitere Fragen aufwerfen und ein weiteres Datensampling erforderlich machen. So geht der Prozess Schritt für Schritt voran. „Unser Ziel ist es, die Medien selbst zum Sprechen zu bringen“, beschreibt Johannes Paßmann. „Durch den iterativen Prozess können wir am Ende viel schlauere Fragen stellen als zu Beginn.“

Software hilft, Veränderungen in der Kommentarfunktion zu finden

Um die Datensätze zunächst automatisiert auswerten zu können, hat Martina Schories eine Software namens Technograph programmiert. Sie sucht in den HTML-Codes der Webseiten nach den Kommentarfunktionen, genauer gesagt nach Updates in den Kommentarfunktionen, die auf Veränderungen hinweisen. Diese Stellen schauen sich die Forschenden dann genauer an. „Bei einer großen deutschen Tageszeitung fiel uns etwa auf, dass sie irgendwann anfing, die Kommentarfunktion nachts abzustellen“, gibt Paßmann ein Beispiel. Solche Erkenntnisse fließen in den nächsten Schritt des Arbeitsprozesses ein. Johannes Paßmann und Lisa Gerzen führen strukturierte Interviews durch, beispielsweise mit ehemaligen Mitarbeitenden aus Zeitungsredaktionen, die für die Kommentare auf den Seiten des Mediums verantwortlich waren.

Nachts keine Kommentare

„In solchen Gesprächen neigen die Menschen standardmäßig dazu, einem erzählen zu wollen, dass alles toll war, wofür sie verantwortlich waren“, schildert Paßmann. „Dank unserer Recherchen im Internet Archive können wir die Gespräche ganz anders führen, weil wir Fragen stellen können, auf die wir sonst nie gekommen wären.“ Beispielsweise zu den Gründen, warum die Kommentarfunktion nachts lahmgelegt wurde. „Die Zeitungen tragen eine Verantwortung für das, was in ihren Kommentarspalten passiert“, sagt Johannes Paßmann. Wenn dort jemand den Holocaust leugnet, muss das Medium juristische Konsequenzen fürchten. Für die Plattformen galt das allerdings lange nicht. Heute werden die Betreiber der Kommentarplattformen mehr in die Verantwortung genommen, Fehlinformationen und Hassrede zu unterbinden.

Ein Kommentar ist schnell geschrieben – eine Beleidigung auch. © Roberto Schirdewahn

Auch deshalb wurden die Kommentarfunktionen mehr und mehr zur Chefsache, wie Johannes Paßmann auch aus den Interviews zu berichten weiß: „Ein Abteilungsleiter des Kommentarmanagements einer großen deutschen Tageszeitung erzählte uns, dass seine Abteilung in den 2000er-Jahren noch im Keller untergebracht war, bei der Technik.“ Mit der Zeit seien sie dann immer weiter aufgestiegen und heute oft im Newsroom zu finden. „Ein ehemaliger Chefredakteur erzählte uns, dass er ab etwa 2014, wenn er morgens ins Büro kam, als erstes geschaut hat, welche Kommentare eingegangen waren“, ergänzt Paßmann. „Das zeigt, wie hoch das Thema schließlich aufgehängt war.“ Irgendwann entschloss sich das Medium, die Funktion nachts ganz abzuschalten, um sicherzugehen, dass man zeitnah auf problematische Kommentare reagieren konnte.

Das Ende der Goldnugget-Metapher

Die Auswertung der Daten und die Interviews laufen noch, aber eins deutet sich schon an: 2014 war ein besonderes Jahr – ein Jahr, in dem die Metapher der Goldnuggets ihr Ende fand. „Eine interviewte Person sprach im Zusammenhang mit diesem Jahr vom ‚Urknall des Postfaktischen‘“, zitiert Johannes Paßmann. Noch sei es zu früh für definitive Aussagen, aber: „2014 war das Jahr der Krim-Annexion, und wir sehen Anzeichen, dass Aktivitäten aus Russland zu dieser Zeit stärker wurden.“ Ob diese Ereignisse ursächlich für Veränderungen im Umgang mit Kommentaren waren, ist noch nicht klar. Es müssen laut Paßmann auch andere Faktoren in Betracht gezogen werden: Die Sozialen Netzwerke Facebook, Twitter und Instagram wuchsen zu dieser Zeit rasant, die mobilen Endgeräte wurden billiger. Das rief viele neue Nutzerinnen und Nutzer auf den Plan.

Johannes Paßmann ist Juniorprofessor für Geschichte und Theorie sozialer Medien und Plattformen an der Ruhr-Universität Bochum. © Roberto Schirdewahn

Was auch immer die Ursache für den Wandel war, klar ist für die Forschenden, dass sich 2014 etwas verändert hat. Das sehen sie auch in einer Analyse der Selbstdarstellung des Unternehmens „Disqus“. Es ist einer der weltweit größten Anbieter für Kommentarfunktionen, die Kunden in ihre Webseiten einbinden können. Paßmanns Team untersuchte, wie Disqus seine Produkte zwischen 2007 und 2021 bewarb.

Neue Metaphern signalisieren Dringlichkeit

Anfangs dominierten Euphorie und Optimismus, wenn auch die Gefahr durch Trolle bereits erwähnt wurde. Disqus sprach davon, dass man die wertvollen Kommentare wie Gold aus der Masse des unschädlichen Unrats fischen müsste. Zugleich warb die Firma anfangs damit, dass ihre Technik den Kunden helfe, Diskussionen anzukurbeln. Später verschob sich der Zweck. Disqus warb nun damit, dass sein Tool die Moderation von Diskussionen erleichtern sollte.

Mit dem Verschwinden der Goldnuggets kamen zudem neue Metaphern auf. 2014 etwa das Konzept der „healthy communities“, die immun gegen polemische Debatten gewisser Userinnen und User sind. 2016 etablierte sich der Begriff der „toxischen Kommunikation“, und auch Kriegsmetaphern wie „dass Hassrede bekämpft werden muss“ kamen hinzu. „Wir bezeichnen das als ‚metaphors of urgency‘“, sagt Johannes Paßmann. „Die Wortwahl suggeriert, dass man nicht mehr weitermachen kann wie bisher.“

Auseinandersetzungen, in denen Leute versuchen, sich gegenseitig zu überzeugen, sind oft weiterhin wie Goldnuggets.


Johannes Paßmann

Für solche Änderungen interessiert sich das Forschungsprojekt. Denn ein Wandel im Sprechen über Technik ist nicht weniger wichtig als der Wandel der Technik selbst. Beides zeigt, wie sich das Internet in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat. „In vielen Fällen hat es nicht erfüllt, was man sich von ihm versprochen hat. Die Konflikte sind teils unerträglich geworden“, so Paßmann. Dabei dürfe aber nicht vergessen werden, dass so mancher Konflikt gerade das sei, was weiterhin den großen Wert des Internets ausmache.

Als positives Beispiel nennt der Forscher manche wissenschaftlichen Diskurse. Onlinekommentarfunktionen hätten hier produktive Konflikte erzeugt: „Auseinandersetzungen, in denen Leute versuchen, sich gegenseitig zu überzeugen, sind oft weiterhin wie Goldnuggets zwischen all dem Unrat.“ Aber die müsse man erst mal finden. Ob die Kommentarfunktionen dabei allerdings immer zuträglich sind, sei eine offene Frage, die es weiterhin zu beobachten gelte.

Originalveröffentlichung

Johannes Paßmann, Anne Helmond, Robert Jansma: From healthy communities to toxic debates: Disqus’ changing ideas about comment moderation, in: Internet Histories, 2022, DOI: 10.1080/24701475.2022.2105123

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Veröffentlicht

Montag
24. April 2023
09:43 Uhr

Dieser Artikel ist am 1. Juni 2023 in Rubin 1/2023 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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