Kriminologie Zwischenbericht im Forschungsprojekt zu rechtswidriger Polizeigewalt
Die Befragung zeigt ein erhebliches Dunkelfeld. Ein Grund dafür ist, dass die Betroffenen die Erfolgsaussichten einer Anzeige gering einschätzen.
Über 3.300 Berichte konnten die Forscherinnen und Forscher des Lehrstuhls für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum (RUB) von Prof. Dr. Tobias Singelnstein im ersten Teil des Projekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (Kviapol) auswerten. Nach dem Abschluss der Online-Befragung präsentieren sie einen Zwischenbericht. Er zeigt unter anderem, dass in 86 Prozent der berichteten Vorfälle kein Strafverfahren durchgeführt wurde, die Fälle also nicht in die Statistik eingingen. Über 70 Prozent der Befragten berichten von körperlichen Verletzungen.
Wie stets bei Viktimisierungsbefragungen wurden in der Studie Erfahrungen und Einschätzungen der Befragten erhoben. Die Daten geben somit deren Perspektive auf die erlebte Gewaltanwendung wieder. Die Stichprobe ist aufgrund der gewählten Rekrutierungsstrategie nicht repräsentativ. Den zweiten Teil der Studie, die noch bis zum Jahr 2020 läuft, bilden 60 Interviews mit Expertinnen und Experten aus Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft.
Demonstrationen und Fußball dominieren
Über neuneinhalb Wochen zwischen November 2018 und Januar 2019 lief die Online-Befragung. 3.375 Fälle gingen in die Analyse ein. Es zeigte sich, dass die meisten berichteten Vorfälle – 55 Prozent – bei Demonstrationen und politischen Aktionen stattgefunden hatten. 25 Prozent der Fälle ereigneten sich rund um Fußballspiele und andere Großveranstaltungen. Andere Einsätze machen 20 Prozent der Gesamtstichprobe aus.
Die Befragten sind mit 72 Prozent insgesamt eher männlich, außerdem jung und hoch gebildet. „Das Durchschnittsalter der Betroffenen zur Zeit des Vorfalls liegt bei 26 Jahren“, berichtet Tobias Singelnstein. 71 Prozent der Befragten haben Fach- oder Hochschulreife. 16 Prozent haben einen Migrationshintergrund.
Je größer der Ort, desto höher das Risiko
Es wurden Vorfälle aus Gemeinden jeder Größenordnung berichtet. Die Zahl der berichteten Fälle nimmt allerdings mit der Ortsgröße kontinuierlich zu und ist in Großstädten am höchsten. Als Ort der berichteten Gewaltanwendung durch Polizeibeamte wurde überwiegend der öffentliche Raum angegeben. Gewaltanwendungen in Polizeifahrzeugen oder Räumlichkeiten der Polizei waren seltener, machten aber immerhin 20 Prozent aus.
In den meisten Fällen kam es schnell zur Gewalt: 54 Prozent der Befragten berichteten, dass es vom ersten Kontakt bis zur Gewaltausübung unter zwei Minuten gedauert habe. Mehr als zehn Minuten dauerte es sehr selten.
Waffen spielen keine Rolle
Die Befragten schilderten eine große Bandbreite an Formen der ausgeübten Gewalt. Insgesamt dominierten leichtere bis mittelschwere Formen. Sehr häufig wurde von Stößen und Schlägen berichtet. Ebenfalls häufig genannt wurden Festhalten oder zu hartes Anfassen, Tritte und Fesselungen oder Fixierungen. „Die Formen der Gewalt, die in den berichteten Fällen eingesetzt wurden, unterschieden sich je nach Anlass für den Polizeikontakt“, so Singelnstein. „So spielte der Einsatz von Pfefferspray vor allem bei Großveranstaltungen eine erhebliche Rolle, insbesondere bei Fußballspielen. Der Einsatz von Distanzelektroimpulsgeräten, auch als Taser bezeichnet, oder Schusswaffen wurde nur vereinzelt berichtet und spielt in der Gesamtschau praktisch keine Rolle.“
Körperliche Verletzungen und psychische Folgen
71 Prozent der Befragten erlitten durch die Gewalt körperliche Verletzungen. 19 Prozent gaben an, schwere Verletzungen erlitten zu haben, zum Beispiel Knochenbrüche, schwere Kopfverletzungen oder innere Verletzungen. Im Durchschnitt empfanden die Befragten aus allen Einsatzsituationen starke Schmerzen. Zwei Drittel gaben an, dass die Genesung einige Stunden oder Tage gedauert habe. Bei 31 Prozent der Befragten dauerte der Heilungsprozess einige Wochen oder länger; bei vier Prozent blieben den Berichten zufolge sogar bleibende Schäden zurück. Neben den körperlichen Folgen berichteten die Befragten auch von erheblichen psychischen Folgen wie Angst oder Vermeidungsverhalten.
Befragung zeigt erhebliches Dunkelfeld
In der nicht repräsentativen Stichprobe der Studie blieb ein Großteil der berichteten Fälle im Dunkelfeld, führte also nicht zu einem Strafverfahren. „Betrachtet man nur die Fälle, in denen eine Information zur Verfahrenseinleitung vorliegt, so beträgt dieser Anteil 86 Prozent“, so Singelnstein. „In der Stichprobe der Studie ist das Dunkelfeld also etwa sechsmal größer als das Hellfeld.“
Die Betroffenen haben nach den Berichten vor allem deswegen von einer Anzeige abgesehen, weil sie davon ausgingen, dass sie damit ohnehin erfolglos wären. Ein Blick in die Statistik der Justiz zeigt tatsächlich: Strafverfahren gegen Polizistinnen und Polizisten wegen rechtswidriger Gewaltausübung weisen eine auffallend hohe Einstellungs- sowie eine besonders niedrige Anklagequote auf.