Proteinforschung Neuer Biomarkerkandidat für Amyotrophe Lateralsklerose
Infrarotanalysen von Nervenwasserproteinen geben Hinweise auf molekulare Veränderungen bei Patienten mit ALS. Das hilft, die Diagnose zu sichern.
Ein Forschungsteam des Zentrums für Proteindiagnostik (Prodi) der Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat gemeinsam mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Dresden, des Universitätsklinikums Essen und der Universitätsmedizin Göttingen ein diagnostisches Tool für die seltene neurologische Erkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) entwickelt. In der Studie wurde der patentierte Immuno-Infrarotsensor verwendet, der nach spezifischer Bindung Faltungsveränderungen von Proteinen im Nervenwasser von ALS-Patienten untersuchte. Mit der neuartigen Methode wurden erstmals Konformationsänderungen beim Protein TDP-43 im Nervenwasser der Patienten nachgewiesen. Das Projektteam unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Gerwert und Prof. Dr. Lars Tönges berichtet über die Forschungsergebnisse in der internationalen Zeitschrift „Annals of Clinical and Translational Neurology“ vom 2. Dezember 2020.
Veränderte Proteinstrukturen bei ALS
ALS ist eine tödlich verlaufende neurodegenerative Erkrankung mit raschem Verlust der motorischen Funktion und führt in der Regel bereits innerhalb weniger Jahre zu einem schwerwiegenden Erkrankungsbild mit frühem Versterben der Patienten. Bisher ist eine frühe und präzise Diagnose der Erkrankung weiterhin erschwert. Als einer der prominentesten Patienten galt Stephen Hawking. Im Sommer 2014 erlangte die Erkrankung mediale Aufmerksamkeit durch eine groß angelegte Spendenkampagne, die sogenannte Ice Bucket Challenge.
Bis heute besteht eine der wichtigsten Herausforderungen in der ALS-Diagnostik darin, andere ähnliche Erkrankungen auszuschließen und die ALS sicher zuzuordnen. Bei ALS spielt vor allem das TDP-43-Protein eine entscheidende Rolle. Es formt kleine Einschlüsse in Nervenzellen. TDP-43-Einschlüsse scheinen eine entscheidende pathomechanistische Bedeutung zu haben und sind die neuropathologischen Kennzeichen in sporadischen und vielen genetischen ALS-Fällen. Sie wurden bereits in zahlreichen Hirnautopsien von ALS-Patienten gefunden. Die Bochumer Forscherinnen und Forscher und ihre Kollegen konnten in dieser Arbeit zeigen, dass krankhaft fehlgefaltete Formen des Proteins auch in Lösung im Nervenwasser vorkommen und dort spezifisch analysiert werden können.
Dr. René Günther, einer der Erstautoren der Studie und Leiter der Arbeitsgruppe und Spezialambulanz für Motoneuronerkrankungen an der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden erläutert: „Die Biomarkerforschung spielt eine entscheidende Rolle in der Verbesserung von Früherkennung und Sicherung der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose. Zudem sind Biomarker eine Grundlage für erfolgreiche Arzneimittelprüfungen und Therapieentwicklungen bei dieser dramatisch verlaufenden und schlecht behandelbaren Erkrankung. Bisher sind nur krankheitsunspezifische Biomarker verfügbar. In unserer Pilotstudie konnten wir erstmals Konformationsänderungen von TDP-43-Proteinen im Nervenwasser von Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose mit dieser innovativen Methode nachweisen.“
Pilotstudie zeigt Potenzial
Es gelang dem Team um Lars Tönges und Klaus Gerwert, eine Diagnose der Erkrankung anhand der veränderten Struktur des Proteins TDP-43 zu sichern. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Proteine von überwiegend ungeordneten und helikalen Strukturen zu sogenannten ß-Faltblättern umfalten. Diese Formen fördern schadhafte Zusammen- und Ablagerungen des Proteins in Nervenzellen. In der Analyse konnten 36 ALS-Patienten anhand des TDP-43-Signals von 30 Parkinsonpatienten mit einer Sensitivität von 89 Prozent und einer Spezifität von 77 Prozent unterschieden werden. Zudem konnte eine Kontrollgruppe mit neurologisch unauffälligen Patienten mit einer Sensitivität von 89 Prozent und einer Spezifität von 83 Prozent abgegrenzt werden. Den Forschern gelang es somit, zudem andere Erkrankungen, die sich auf die Motorik auswirken, wie Morbus Parkinson, anhand der Analyse des TDP-43 auszuschließen. Diese Ergebnisse sollen in einer größer angelegten Studie verifiziert und validiert werden.
Weiterentwicklung des Alzheimersensors
Bereits in früheren Studien konnte der Immuno-Infrarotsensor von Klaus Gerwert genutzt werden, um krankhaft veränderte Proteine im Blut von Patienten mit Morbus Alzheimer bereits vor Auftreten von Symptomen zu erkennen. Die Technik wurde in diesem Fall weiterentwickelt und für die Anwendung bei Nervenwasser von Patienten mit ALS optimiert. Dabei wird das Potenzial deutlich, das Verfahren auch für andere neurologische Erkrankungen zu untersuchen. Durch die enge Kooperation mit Prof. Dr. Ralf Gold, Direktor der Klinik für Neurologie des St. Josef-Hospitals Bochum und Forschungsleiter des Prodi-Bereichs Experimentelle Medizin, werden aktuell weitere Projekte bearbeitet, um neurologische Erkrankungsprozesse besser zu verstehen.
Léon Beyer, einer der Erstautoren der Studie und Doktorand des Bereichs Biospektroskopie in Prodi, führt aus: „Diese Errungenschaft kann neue Aufschlüsse über die Mechanismen der Erkrankung geben. Im Vergleich zu anderen Methoden, die Konzentrationen von bestimmten Proteinen widerspiegeln, gibt die Infrarotsensortechnologie Einblicke in das molekulare Geschehen und kann somit in Zukunft ein mitentscheidendes Tool werden bei der Diagnosestellung und Entwicklung von Therapieansätzen in der Klinik. Vor allem aber wird ein großer Beitrag zum genaueren Verständnis von Erkrankungen geleistet.“
Zukunft wird Wert für die Klinik offenbaren
In Zukunft sollen die Ergebnisse der Validierungsarbeiten Aufschluss darüber geben, ob die krankhaft veränderten TDP-43-Proteine in der Klinik dafür genutzt werden können, frühere und präzisere Diagnosen zu stellen und sowie neue molekulare Erkenntnisse zu gewinnen.