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„Meine größte Motivation war es, es allen zu zeigen“
Marco Wolf war Mitte zwanzig, als er die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas verlassen hat. Er berichtet über seinen Ausstieg aus der Sekte und seinen Weg ohne Abitur in die Hörsäle der Ruhr-Universität.
Ihre Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, wie sind Sie in dieser Sekte aufgewachsen?
Mein Alltag war durch die Gemeinschaft und ihre Regeln sehr stark strukturiert. Es gab ein tägliches Bibelstudium, Gemeindeversammlungen und natürlich das Missionieren. Der Großteil meines sozialen Umfeldes kam aus der Gemeinde, meine Kontakte zu Nicht-Zeugen Jehovas waren auf ein Minimum beschränkt.
Welchen Stellenwert hat Bildung für die Zeugen Jehovas?
Zeugen Jehovas schicken ihre Kinder zur Schule, um die Schulpflicht zu erfüllen. Sie ermuntern sie aber nicht, Abitur zu machen und zu studieren. Jedes Mitglied soll in der Lage sein, durch seinen Beruf den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, darin aber nicht seine Erfüllung zu finden. Der Glaube steht an erster Stelle. Ich habe daher nach dem Realschulabschluss eine Lehre als Vermessungstechniker begonnen und bei der Stadt Dortmund gearbeitet.
Es gab kein Schlüsselereignis.
Wie ist es zum Bruch mit der Sekte und somit auch zu Ihrem Austritt gekommen?
Es gab kein Schlüsselereignis oder einen besonderen Moment, es war eher ein Prozess, der sich über viele Jahre hinzog. Ich habe schon als Jugendlicher angefangen, meinen Glauben und die strengen Regeln der Zeugen Jehovas zu hinterfragen. Die Zweifel an dem Glaubenssystem wurden irgendwann so stark, dass ich mit Mitte zwanzig damit begann, meine Pflichten in der Gemeinde zu vernachlässigen.
Ich blieb beispielsweise den Gemeindetreffen fern und ging auch nicht mehr missionieren. Auch begann ich damit, mir ein neues soziales Umfeld außerhalb der Gemeinde aufzubauen. Einige Jahre später, mit 31 Jahren, trat ich dann offiziell bei den Zeugen Jehovas aus. Als Konsequenz darauf werde ich seitdem von der Gemeinde und von meiner Familie geächtet.
Was hat Sie motiviert, ein Studium, auch ohne Abitur, zu beginnen?
Ich habe bei den Zeugen Jehovas erlebt, wie Aussteiger diffamiert wurden. Ihnen wurde oft nachgesagt, dass sie ihr Leben, ohne den Glauben und den Rückhalt der Gemeinde, nicht mehr in den Griff bekommen werden. Meine größte Motivation war daher, es allen zu zeigen, dass mir das nicht passiert und ich ein Studium erfolgreich abschließen kann. Ich spreche deswegen auch so offen über meinen Weg, weil ich zeigen will, dass es ein Leben außerhalb der Sekte gibt und ich alles schaffen kann, was ich mir vorgenommen habe.
Alle Informationen für Studieninteressierte ohne Abitur hat die Zentrale Studierendenberatung auf ihren Seiten gebündelt.
Zunächst habe ich, quasi als Fortsetzung meiner Berufsausbildung, angefangen, Vermessungstechnik an der Hochschule Bochum zu studieren. Am meisten Spaß gemacht haben mir dort schon die Mathematik- und Physik-Module.
Ein Freund hat mir dann erzählt, dass ich auch an einer Universität ohne Abitur studieren kann, diese Möglichkeit kannte ich nicht. Ich habe viel im Netz recherchiert, einen Termin bei der Studienfachberatung Physik ausgemacht und mich an der Ruhr-Universität beworben.
Wie lief der Einstieg ins Studium, was waren die größten Hürden?
Meine eigene Motivation, zu lernen und zu allen Vorlesungen und Übungen zu gehen, war riesig. Ich habe also einen ausgefüllten Zehn-Stunden-Tag gehabt. Im Nachhinein fiel mir die Umstellung vom Arbeitsleben auf den Unialltag überhaupt nicht schwer, ich habe es vielleicht nur ein bisschen genossen, morgens auch mal länger schlafen zu können.
Finanziert habe ich das Studium am Anfang durch Bafög und die Unterstützung meiner Oma, meiner Tante und meines Onkels, die nicht den Zeugen Jehovas angehören.
Bis Sommer 2024 liegt der Fokus auf der Abschlussarbeit.
Sie sind mittlerweile im Master angekommen, gibt es schon Pläne für die Zeit nach der Uni?
Aktuell schreibe ich am Lehrstuhl für theoretische Physik meine Masterarbeit im Bereich der Grundlagenforschung. Für einen weiteren Weg habe ich mich noch nicht entschieden, ich kann mir sowohl vorstellen, an der Uni zu bleiben und zu promovieren als auch in die freie Wirtschaft zu gehen. Eine Entscheidung muss ich auch erst im Sommer 2024 treffen, bis dahin liegt der Fokus ganz klar auf der Abschlussarbeit.
14. September 2023
09.13 Uhr