Die Corona-Pandemie hat Modernisierungsprozesse in den Jobcentern angestoßen.
© Jobcenter Kreis Recklinghausen

Sozialpolitik Die Corona-Pandemie als Treiber sozialpolitischer Reformen

Die Pandemie hat den Weg für digitales Arbeiten in den Jobcentern geebnet – und, möglicherweise, für eine Reform des Hartz-IV-Systems.

Der Ausbruch des Corona-Virus und die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung haben seit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt vor große Herausforderungen gestellt. Als zentrale Akteure der Arbeitsverwaltung standen die Jobcenter dabei vor einer besonderen Belastungsprobe: Sämtliche administrative Verfahren und Arbeitsprozesse, wie zum Beispiel Antragstellung und Beratung, mussten in kürzester Zeit umgestellt, neue Sonderreglungen im Sozialgesetzbuch umgesetzt und die vielen pandemiebedingten Neuzugänge in die Grundsicherung betreut und verwaltet werden. Diese Veränderungen haben Prof. Dr. Rolf Heinze und Dr. Fabian Beckmann vom Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft der RUB und Prof. Dr. Jürgen Schupp vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) empirisch untersucht.

Digitalisierung von Arbeitsprozessen

Gemeinsam mit Dominik Schad, Leiter des Jobcenters Kreis Recklinghausen, werteten die Wissenschaftler mehr als 600 Online-Fragebögen von Mitarbeitenden der insgesamt 15 Jobcenter-Bezirksstellen im Kreis Recklinghausen aus. Das Ergebnis: „Die Pandemie hat eindeutig administrative und inhaltliche Transformationsprozesse angestoßen", fasst Heinze zusammen. So habe die Umfrage unter den Jobcenter-Mitarbeitenden ergeben, dass viele Verfahrensprozesse, beispielsweise das Einreichen von Anträgen, problemlos digital zu organisieren seien. „Die Digitalisierungsoffensive der Arbeitsverwaltung scheint überfällig gewesen zu sein“, schließt Beckmann. Auf der anderen Seite seien sich die Beschäftigten darüber einig, dass die Digitalisierung nicht zu Lasten eines persönlichen Austausches gehen dürfe. Für Beratungs- und Vermittlungsangebote sei der Kontakt vor Ort wichtig. „Eine menschenleere Behörde kann daher nicht das Ziel sein", folgert Schad.

Von der bedingungsarmen Grundsicherung zum bedingungslosen Grundeinkommen?

Weitaus skeptischer scheinen die Mitarbeitenden die sozialpolitischen Reformen zu sehen, die Ende März 2020 beschlossen und in den Jobcentern umgesetzt werden mussten. Um die bisherigen Folgen der Pandemie abzufedern, wurde ein vereinfachter Zugang zu Leistungen der Grundsicherung beschlossen. Die Neuregelungen zielen darauf ab, schnelle und unbürokratische Zugänge zur sozialen Sicherung sowie eine zügige Bereitstellung von Geldzahlungen für den Lebensunterhalt zu ermöglichen. So wurde etwa auf Sanktionen verzichtet und die Bedürftigkeitsprüfung abgeschwächt.

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„Weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit sowie kontroverser parlamentarischer Debatten wurde eine befristete sozialpolitische Neujustierung des Hartz-IV-Systems vorgenommen“, erklärt Soziologe Beckmann weiter. Die „bedingungsarme“ Grundsicherung könne als pragmatischer Kompromiss zwischen einem defensiven „back to normal“ und einem offensiven alternativen Entwicklungspfad in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens eingeordnet werden.

Veränderungen stoßen auf Widerstand

Bestehen die neuen, temporären Hartz-IV-Reformen den Praxistest? Wie werden sie dort wahrgenommen, wo sie erstmalig implementiert wurden? „Wir sehen, dass die Jobcenter die veränderten Regelungen schnell umsetzen konnten“, erläutert Heinze. Die Umfrage der Bochumer und Berliner Wissenschaftler zeigt jedoch auch, dass die pandemiebedingten Sonderreglungen in den Jobcentern auch auf Widerstand stoßen: „Die Mitarbeitenden in den Jobcentern sind an die alten Regelungen gewohnt. Wie in vielen Organisationen bedeuten Veränderungen auch Verunsicherung“, erklärt Schupp. Wichtig sei daher, die Vorbehalte unter den Jobcenter-Beschäftigten ernst zu nehmen und die positiven Chancen einer Reform zu kommunizieren. Eine solche Reform könnte helfen, so das Fazit der Wissenschaftler, die vorhandenen Ressourcen für die Arbeitsvermittlung zu nutzen und den Druck auf Leistungsbeziehende zu reduzieren.

Die Neuregelungen im Bereich der Grundsicherung gelten bis zum 31. März 2021. Über eine weitere Verlängerung bis zum 31. Dezember 2021 oder sogar eine Entfristung der aktuellen Regelungen wird derzeit politisch diskutiert.

Originalveröffentlichung

Fabian Beckmann, Rolf G. Heinze, Dominik Schad, Jürgen Schupp: Erzwungene Modernisierung? Arbeitsverwaltung und Grundsicherung in der Corona-Pandemie: Abschlussbericht der Organisationsbefragung, in: Politikberatung kompakt 161, II, 2021.

Coronaforschung an der RUB

Seit Beginn der Coronapandemie wird an der RUB zu Covid-19 geforscht –  über alle Fächergrenzen hinweg. Beteiligt sind deshalb nicht nur Medizin und Lebenswissenschaften, sondern beispielsweise auch Psychologie, Soziologie, Rechts-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaft. Einen Überblick der Forschungsprojekte findet sich hier.

Veröffentlicht

Freitag
22. Januar 2021
09:51 Uhr

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