Sozial-/Kulturwissenschaften Frauenbewegung in Japan
Über 100 Jahre alt ist die japanische Frauenbewegung. Nun zeichnen Forschende der Ruhr-Universität und der Heinrich-Heine-Universität ihre Entwicklung nach – anhand von Texten, die erstmals auf Deutsch verfügbar werden.
„Immer wieder wurden wir gefragt, ob es in Japan überhaupt eine Frauenbewegung gibt“, erzählen Prof. Dr. Ilse Lenz von der Ruhr-Universität und Prof. Dr. Michiko Mae von der Heinrich-Heine-Universität. Mit ihrem kürzlich erschienen Band „Frauenbewegung in Japan“ beantworten die beiden Herausgeberinnen diese Frage nicht nur mit einem eindrücklichen Ja, sondern verschaffen rund 60 bis dahin außerhalb Japans unbekannten Stimmen Gehör. Das Buch ist die erste umfassende Darstellung der japanischen Frauenbewegung in Deutschland mit repräsentativen Texten, die größtenteils erstmals übersetzt wurden.
Über 100 Jahre alt
„In ihrer über hundertjährigen Geschichte hat sich die Bewegung in mehreren Aufbrüchen kontinuierlich fortentwickelt“, erklärt Ilse Lenz. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien hegemoniale Geschlechterbilder und Weiblichkeit radikal hinterfragt worden. In den 1980ern sei die Debatte um geschlechtliche und sexuelle Vielfalt entbrannt, ab den 1990ern artikulierten sich queere Ansätze. „Bis heute fordern Feminist*innen individuelle Autonomie und Subjektivität für sich ein und kritisieren den männlich zentrierten Familienstaat radikal“, ergänzt ihre Forschungskollegin Michiko Mae. Mae sieht die Frauenbewegung zudem als „treibende Kraft für die Erneuerung der japanischen Gesellschaft“. Zu den von der Frauenbewegung bewirkten gesellschaftlichen Impulsen würden die Kritik am Nationalismus, Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus zählen sowie das Gesetz für gleiche Partizipation oder auch das Gender-Free-Konzept.
Im Buch kommen Aktivist*innen aus verschiedenen sozialen Positionen und Milieus zu Wort wie etwa die Sprecherinnen für Frauenrechte aus dem 19. Jahrhundert, die erste feministische Zeitschrift Seito, pazifistische Mütter nach 1945, Männer mit ihrer Patriarchatskritik, dekoloniale Aktivistinnen oder auch Vordenkerinnen lesbischer und queerer Lebensweisen.
Erste umfassende Quellensammlung außerhalb Japans
Insgesamt 58 faszinierende und provokante Texte in Erstübersetzung haben die beiden Forscherinnen in den Band mit aufgenommen und mit Kommentaren versehen. Sie zeigen auch die Ambivalenzen, Brüche und Widersprüche des japanischen Modernisierungsprozesses auf. „Im Unterschied zu Europa und den USA haben sich die Frauenbewegungen in Japan in aufeinander aufbauenden Phasen entwickelt. Doch inmitten dieser Kontinuität zeigen sich wiederholt radikale Aufbrüche vonseiten der Feminist*innen, die für Autonomie und Subjektivität eintraten“, so Lenz.
Weit mehr als eine regionale Fallstudie
Im internationalen Vergleich sei besonders hervorzuheben, dass die japanische Bewegung von Anfang an eine kritische internationale Perspektive eingenommen habe. Seit 1970 engagierte sie sich gemeinsam mit Frauen- und Bürgerbewegungen in China, Korea und Südostasien für eine Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart. „Deswegen geht die Bedeutung der Frauenbewegungen in Japan und ihres Einsatzes für andere Wege in die Moderne weit über eine regionale Fallstudie hinaus“, betont Lenz. Insbesondere Japans Doppelstellung als zunächst selbst vom Kolonialismus bedrohtes Land und dann spätere Kolonialmacht sei vor diesem Hintergrund interessant. „Man kann Japan als eine Art Experiment der Modernisierung sehen, mit dem die eurozentrische Fortschrittserzählung konfrontiert werden kann“, so Mae.
Am globalen Fließband Ostasiens
Warum also sind die Stimmen der japanischen Aktivist*innen hierzulande weitgehend unbekannt? Die Autorinnen Lenz und Mae sprechen von einer „Wahrnehmungsverzerrung“, die auf die internationalen Machtverhältnisse in der postkolonialen Welt zurückzuführen sei. „Die Aufmerksamkeit liegt auf Bewegungen in den USA wie Metoo, während Frauenbewegungen für Gerechtigkeit für die Arbeiterinnen am globalen Fließband in Ostasien ausgeblendet werden“, so Lenz und Mae. In diesen Denkmustern zeige sich das Verharren in einer neokolonialen Sicht und einer eurozentrischen Engführung. Mit dem Band wollen die beiden Wissenschaftlerinnen auch dazu beitragen, die Muster grundlegend zu hinterfragen und zugleich den Blick für den Feminismus in Japan und die gesellschaftlichen Veränderungen in Japan zu öffnen.
Quellen, die Mut machen
Tatsächlich, so merken es Lenz und Mae kritisch an, habe sich an der gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Situation der Frauen in Japan trotz der Fortschritte in der Gleichstellungspolitik zu wenig verändert. Das würde etwa die Gender-Gap-Skala des Weltwirtschaftsforums zeigen. Und dennoch: „Die Quellentexte im Band sind ermutigend und zeigen, dass die Frauenbewegungen über Potenziale wie Reflexionsfähigkeit, Mut und Solidarität verfügen, um auf die aktuellen Herausforderungen zu antworten“, so das optimistische Fazit der Herausgeberinnen.