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Ein Spiel auf Leben und Tod
Höher, schneller, weiter – darum geht es im modernen Leistungssport. Aber Leistung war nicht immer so definiert, weiß Sporthistoriker Prof. Dr. Andreas Luh von der Ruhr-Universität Bochum. Er erforscht die Bewegungspraktiken von vormodernen Kulturen wie den Maya oder alten Ägyptern und meint, dass sich über die Definition des Leistungsbegriffs die Identität einer Kultur erfassen lässt. Was das für die Maya heißt, schildert er im Interview.
Herr Professor Luh, seit wann betreiben Menschen eigentlich Leistungssport?
Der moderne Sportgedanke, in dem es darum geht, schneller zu laufen oder mehr Tore zu erzielen als andere, ist mit der Industrialisierung massenwirksam geworden. Er kam aus England und verdrängte das deutsche Turnen, das eher gemeinschaftsorientiert war. Die Anfänge liegen im 18., teilweise sogar 17. Jahrhundert.
Es ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, andere übertreffen zu wollen – das sieht man schon beim Überholen auf der Autobahn.
Allerdings wollte man bereits in der griechischen Antike Konkurrenten besiegen und schneller sein als sie. Es ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, andere übertreffen zu wollen – das sieht man schon beim Überholen auf der Autobahn. Früher gab es aber auch andere Definitionen des Leistungsbegriffs als heute.
Wo zum Beispiel?
Zum Beispiel im Alten Ägypten oder bei den Maya, wo körperliche Leistungsfähigkeit nicht dazu diente, als Individuum herauszustechen, sondern für das Gemeinwohl entscheidend war.
Welchen Sport haben die Maya betrieben?
Ich würde das nicht als Sport, sondern als Bewegungskultur bezeichnen, die in das religiöse Weltbild der Maya integriert war. Es gab ein Ballspiel, in dem der Ball die lebensspendende Sonne repräsentierte und in Bewegung gehalten werden musste, um Schaden von der Erde abzuwenden.
Die Maya lebten unter schwierigen geografisch-klimatischen Bedingungen, litten unter Überschwemmungen, Trockenzeiten, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen. Sie glaubten, dass ihre Welt zyklisch zerstört wird und neu entsteht. Ihre Umwelt wurde von hunderten von Göttern bestimmt. Es herrschte eine regelrechte Opfermanie, um das Neuerstehen der Welt zu gewährleisten. Auch die Bewegungskultur war darauf ausgerichtet.
Man stelle sich vor, Manuel Neuer würde nach einem 8:1 des FC Bayern München über Mainz das Herz herausgeschnitten! Das klingt für uns natürlich verstörend.
Das Ballspiel war mit Opfern verbunden?
Ja. In dem Spiel traten zwei Mannschaften gegeneinander an. In Notzeiten wurde am Ende des Spiels die siegende oder verlierende Mannschaft geopfert. Es gibt zahlreiche Fresken und Reliefs, die zeigen, wie dem Kapitän der Mannschaft das Herz herausgeschnitten oder der Kopf abgetrennt wird, aus dessen Blut dann Pflanzen entspringen und neues Leben sprießt. Man stelle sich vor, Manuel Neuer würde nach einem 8:1 des FC Bayern München über Mainz das Herz herausgeschnitten! Das klingt für uns natürlich verstörend.
Besonders irritierend klingt, dass manchmal die Sieger geopfert wurden.
Ob Sieger oder Verlierer geopfert wurden, geht aus den Quellen nicht klar hervor. Man findet Hinweise auf beides. Für die Sieger würde sprechen, dass sie eine größere Kraft in sich trugen.
Gab es auch Schiedsrichter? Schließlich hing vom Ausgang des Spiels einiges ab.
Das ist ebenso wie die genaue Punktewertung unbekannt. Man weiß zumindest, dass es bei den Maya selten Zuschauer gab, sondern ein religiöses Ritual darstellte. Aber es muss ein reglementiertes Spiel gewesen sein.
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Welche Regeln gab es?
Ziel war es, einen zwei bis vier Kilogramm schweren Vollgummiball möglichst selten auf den Boden aufkommen oder ruhen zu lassen. Werfen und schießen waren verboten. Man durfte den Ball mit zwei Körperteilen spielen, zum Beispiel mit der rechten Schulter und der linken Hüfte. Gespielt wurde auf einem Feld mit farbigen Flächen und Linien. Über 1.500 mesoamerikanische Ballspielplätze wurden ausgegraben, das Spielfeld, das in Chichen Itza bis heute zu besichtigen ist, war etwa 135 mal 90 Meter groß. An der Wand gab es zwei Ringe; ging der Ball hindurch, war das Spiel sofort beendet. Es war akrobatisch und körperlich sehr anstrengend, die Spieler trugen eine lederne Schutzausrüstung.
Und wie groß war eine Mannschaft?
Eine Mannschaft bestand aus zwei bis sieben Spielern. Es waren Kriegsgefangene, häufig aber auch Mitglieder der Priesterschaft, die bereit war, sich in Notzeiten für das Gemeinwohl zu opfern. Das Spiel war ein göttliches Ritual, das dem Fortbestehen der Erde diente. Manchmal wurde auch gespielt, um den Zeitpunkt für die Aussaat zu bestimmen oder wann ein Krieg beginnen sollte.
Die Maya werden häufig als friedliebende Kultur dargestellt. Passen diese Erkenntnisse eigentlich dazu?
Die neuere Forschung hat die Meinung von der friedliebenden Natur der Maya relativiert. Die Maya waren bereit, alles zu opfern, was sie besaßen, auch ihre Kinder. Sie opferten jedes Jahr Hunderte von Menschen. In anderen mittelamerikanischen Kulturen, zum Beispiel bei den Azteken, waren es sogar Zehntausende pro Jahr. Letztlich war es bei den Maya sozusagen die höchste sportliche Leistung, den Körper bis zur Selbstaufgabe zu schädigen, um solidarisch die Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.
Natürlich können wir uns die Maya nicht zum Vorbild nehmen. Aber wir sollten uns überlegen, was für uns Leistung ist und was vielleicht auch problematisch an unserem heutigen Leistungsbegriff ist.
Vieles an der Kultur der Maya finde ich faszinierend, etwa dass sie nicht individuell nach Ruhm gestrebt haben. Natürlich können wir uns die Maya nicht zum Vorbild nehmen. Aber wir sollten uns überlegen, was für uns Leistung ist und was vielleicht auch problematisch an unserem heutigen Leistungsbegriff ist.
Ähnlich wie bei den Maya war auch bei den Alten Ägyptern die körperliche Leistung gemeinwohlorientiert. Oberstes Ziel war es, die Weltordnung „Ma’at“ gegen die chaotischen Kräfte – etwa wilde Tiere oder fremde Völker – zu verteidigen. „Es gab so etwas wie Internate, in denen die adlige Oberschicht ausgebildet wurde, zum Beispiel in Religion und Geschichte. Dort wurde sie auch systematisch körperlich trainiert, um Ma’at aufrechterhalten zu können, nicht um sich mit anderen zu messen“, erklärt Sporthistoriker Andreas Luh.
Pharaonen werden auf Wandmalereien mit starken Armen, breiten Schultern und ebenmäßigen Gesichtszügen dargestellt. „Ob das wirklich immer so war, ist natürlich nicht zu sagen“, schränkt Luh ein. „Es gab beispielsweise mal einen Pharao mit Klumpfuß, gegen den eine Revolte angezettelt wurde. Ob das allerdings daran lag, dass er dem Leitbild der körperlichen Fitness nicht entsprochen hat, lässt sich aus den Quellen nicht rekonstruieren.“
Körperlich fit mussten aber nicht nur Pharaonen sein, sondern auch andere, etwa die Bauern, um ihre Aufgabe in der Weltordnung zu erfüllen. Stets ging es darum, sich in die Gemeinschaft einzufügen, nicht aus ihr herauszuragen.
„Gott hat keine Freude an der Kraft des Pferdes, kein Gefallen am schnellen Lauf des Mannes. Gefallen hat der Herr an denen, die ihn fürchten und ehren.“ Dieser Psalm aus dem Alten Testament fasst den Leistungsbegriff zusammen, der im frühen Mittelalter vorherrschte. Leistung bestand im Christentum darin, durch Glaube und Demut einen Weg zu Gott zu finden. Auch unsportliche oder körperlich gebrechliche Menschen konnten somit Höchstleistungen erbringen.
Diese Erlösungsreligion entstand nach dem Zusammenbruch der antiken Kultur, als die Lebenserwartung sank, sich die urbane Zivilisation zurückbildete und die Schriftlichkeit zurückging. „Religion versprach in dieser furchtbaren realen Welt ein Leitbild, wie man zum unendlichen Leben gelangt“, fasst Andreas Luh zusammen. Das Leben und Leiden Jesu zeigte den Weg dorthin auf. Körperliche Leistungsfähigkeit wurde abgewertet. Es galt, die Bürde Gottes aufzunehmen und damit zurechtzukommen.
Trotz dieser Denkweise wurden die mittelalterlichen Dichtungen von typischen Heldenfiguren wie Artus, Lancelot und Richard Löwenherz bestimmt – und von deren Stärke, Kampfkraft und Wagemut. Ein Gegenpol zum religiösen Weltbild, wie auch die mittelalterlichen Ritterturniere, in denen es um körperlich-kämpferische Fitness ging.
Andreas Luh: Sportliche ‚Leistung‘ in kulturhistorischer Perspektive, – die Alten Ägypter, das christliche Denken im frühen Mittelalter, die Maya und die japanischen Sumotori, in: David Wiesche, Norbert Gissel (Herausgeber), Leistung aus sportpädagogischer Perspektive, Springer VS, Wiesbaden 2023, S. 71–106, ISBN: 9783658412326
22. Mai 2024
09.12 Uhr