Sportwissenschaft Was die Heimkulisse mit Fußballern macht
Fußball-Deutschland freut sich auf die Europameisterschaft – und hofft, dass der Heimvorteil die Mannschaft beflügeln wird. Aber performen Fußballteams wirklich besser vor den eigenen Fans?
Ein Spiel vor heimischer Kulisse kann beflügeln – aber auch lähmen. Wenn Zehntausende erwarten, dass der entscheidende Elfmeter den Sieg bringt, steigt der Druck ans Maximum. Es ist nur menschlich, dass in einer solchen Situation die Nerven flattern. Ist der Heimvorteil also gar kein Vorteil, sondern ein Nachteil? Das wollte der Bochumer Sportwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Bühren genauer wissen. Gemeinsam mit Dominic Jung von der Technischen Universität Clausthal untersuchte er Daten der Fußball-Bundesliga aus der Saison 2019/20.
Vergleich von Spielen mit und ohne Publikum
Während die Clubs in der Hinrunde ihre Spiele noch vor vollen Rängen hatten austragen können, mussten sie in der Rückrunde aufgrund der Corona-Pandemie auf Zuschauer verzichten. „Das hat uns die einmalige Möglichkeit gegeben, den Effekt der Heimkulisse zu untersuchen“, erklärt Christoph Bühren. Das Besondere an den Berechnungen von Bühren und Jung war, dass sie einen vollständigen Datensatz des IT-Unternehmens „Opta Data“ zur Verfügung gestellt bekamen, der rund 100 Parameter rund um ein Fußballspiel erhebt. „Es gibt zwar auch frei verfügbare Daten aus der Fußball-Bundesliga, aber diese sind längst nicht so umfangreich wie der Datensatz, mit dem wir arbeiten konnten“, so Bühren.
Die beiden Sportwissenschaftler wollten herausfinden, bei welchen Leistungsparametern sich ein Heimvorteil ergibt und bei welchen nicht. In vorherigen Studien zu anderen Sportarten, beispielsweise Tennis, Basketball oder Slalom, hatte Christoph Bühren mit Kollegen gezeigt, dass die Geschicklichkeit leidet, wenn der Druck hoch ist. Ist das auch im Fußball so?
Präzision vs. Laufbereitschaft
Um die Antwort auf diese Frage zu finden, suchten Bühren und Jung zunächst einige Parameter aus, die das technische Fußballkönnen repräsentieren, beispielsweise die Präzision von Pässen, Flanken oder Torschüssen. Zusätzlich wählten sie Variablen aus, die unter die Überschrift Kampfbereitschaft fallen, etwa Anzahl der Sprints oder die Gesamtlaufdistanz. Diese Parameter verglichen sie für die Spiele mit und ohne Publikum.
Angefeuert von ihren eigenen Fans liefen Heimmannschaften vor Zuschauern im Durchschnitt rund 1,5 Kilometer mehr als in Geisterspielen und legten durchschnittlich 227 statt 222 Sprints hin. „Offensichtlich strengten sich die Spieler also mehr an, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion waren. Die Präzision litt allerdings unter der Kulisse: Während in Geisterspielen 80 Prozent ihrer Pässe ankamen, waren es vor Zuschauern 78 Prozent. Ähnlich sah es bei Flanken aus – 24 Prozent Erfolgsquote in Geisterspielen im Vergleich zu 21 Prozent vor Heimpublikum – sowie bei Torschüssen, von denen vor leeren Rängen 61 Prozent ihr Ziel erreichten, vor Zuschauern 59 Prozent.
Zuschauer wahrscheinlich die Ursache der Unterschiede
„Fans im Stadion scheinen Spieler anzutreiben und zu motivieren, sich bis an die Belastungsgrenze zu verausgaben“, resümiert Christoph Bühren. „Das könnte auch die etwas geringere Präzision der Pässe und Schüsse im Vergleich zu Geisterspielen erklären. Eine weitere Erklärung ist der möglicherweise hohe Druck, vor heimischer Kulisse gewinnen zu wollen. Da wir aber insgesamt nur mit Publikum einen Heimvorteil messen konnten, überwiegt im Profifußball offenbar der positive Effekt der Fans auf die Leistung der Spieler.“
Im Schnitt holten Heimmannschaften vor Publikum 1,51 Punkte pro Spiel. In Geisterspielen kamen die Heimmannschaften durchschnittlich nur auf 0,94 Punkte pro Spiel.
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich die Unterschiede in den Leistungsparametern durch die Zuschauer erklären lassen.
Christoph Bühren
In dem Datenpool der Geisterspiele waren die gleichen Spielpaarungen enthalten wie in dem Datenpool der Spiele mit Zuschauern. „Die Corona-Pandemie hat so dafür gesorgt, dass wir nahezu Bedingungen wie in einem kontrollierten Experiment vorgefunden haben“, sagt Bühren. „Wobei die Hin- und Rückspiele natürlich in unterschiedlichen Stadien ausgetragen wurden. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich die Unterschiede in den Leistungsparametern durch die Zuschauer erklären lassen.“
Nun ist der Sportwissenschaftler gespannt, was die heimischen Arenen bei der Fußball-Europameisterschaft bewirken werden. „Ich drücke der Nationalmannschaft natürlich die Daumen, dass sie vor den eigenen Fans ihr volles Potenzial abrufen kann und eine erfolgreiche EM spielen wird“, so Bühren.