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Die Nachbarn von Galaxien ausfindig machen
Das Universum fliegt auseinander, und diese Expansion beschleunigt sich mit fortschreitender Zeit. Die treibende Kraft dahinter ist die mysteriöse Dunkle Energie. Um zu verstehen, was deren Natur ist, erforschen Kosmologinnen und Kosmologen die Materieverteilung im All und wie sich diese im Lauf der Jahrmillionen entwickelt hat. Dabei hilft der Physics of the Accelerating Universe Survey, kurz PAU Survey, den das Institute of Space Sciences in Barcelona koordiniert und an dem insgesamt 14 Einrichtungen aus sechs Ländern beteiligt sind; auch die Ruhr-Universität Bochum ist Teil des Teams. Am 18. September 2024 veröffentlichte das internationale Team einen umfangreichen Datensatz, der es ermöglichen wird, Messfehler bei der Berechnung der Materieverteilung mithilfe des Gravitationslinseneffekts zu minimieren.
Der Katalog umfasst über 1,8 Millionen Objekte, die in 200 Nächten zwischen 2015 und 2019 beobachtet wurden. Er ist auf der Webseite des PAU Survey veröffentlicht. Die zugrunde liegenden Publikationen sind in den Monthly Notices of the Royal Astronomical Society erschienen. Von der Ruhr-Universität Bochum mitgewirkt haben Anna Wittje und Prof. Dr. Hendrik Hildebrandt vom Lehrstuhl Beobachtende Kosmologie.
Massen mit dem Gravitationslinseneffekt bestimmen
Um die Materieverteilung im All zu bestimmen, nutzen Forschende den Gravitationslinseneffekt: Die Lichtstrahlen, die eine Galaxie aussendet, kommen auf ihrem Weg zur Erde an massereichen Objekten vorbei. Dabei werden sie durch die Schwerkraft dieser Objekte abgelenkt. Je schwerer das Objekt, desto stärker die Ablenkung des Lichtstrahls. Eine Galaxie, deren Licht durch den Gravitationslinseneffekt abgelenkt wird, erscheint von der Erde aus betrachtet verzerrt. Aus dieser Verzerrung können Physikerinnen und Physiker die Ablenkung des Lichts und somit die Masse der ablenkenden Objekte rekonstruieren.
Auch Galaxienhaufen können Verzerrungen bewirken
Allerdings können Galaxien nicht nur wegen des Gravitationslinseneffekts verzerrt erscheinen, sondern auch wenn man aus einem bestimmten Blickwinkel auf sie schaut, zum Beispiel nicht direkt von der Seite oder nicht direkt von oben. In ihre Berechnungen bauen die Forschenden daher eine zusätzliche Sicherheit ein, um möglichst nur die Galaxien zu erwischen, die wegen des Gravitationslinseneffekts verzerrt erscheinen: Sie analysieren keine einzelnen Galaxien, sondern Paare. „Wenn zwei nahe beieinander liegende Galaxien in die gleiche Richtung geneigt erscheinen, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das durch den Gravitationslinseneffekt zustande kommt“, erklärt Hendrik Hildebrandt. Denn das Licht dieser Galaxien kommt auf seinem Weg zur Erde höchstwahrscheinlich an den gleichen massereichen Objekten vorbei, die es ablenken und somit ähnlich verzerren.
Die Theorie hat allerdings einen Haken, denn es gibt noch einen anderen Grund, warum benachbarte Galaxien in die gleiche Richtung geneigt sein können. Nämlich wenn sie am Rande eines Galaxienhaufens liegen und durch dessen Schwerkraft in Richtung Zentrum geneigt werden – der sogenannte Gezeiteneffekt. „Diesen Gezeiteneffekt können wir fälschlicherweise als Gravitationslinseneffekt interpretieren“, erklärt Hendrik Hildebrandt. „Um systematische Fehler bei der Analyse zu vermeiden, müssen wir die Umgebung der Galaxie kennen, also wissen, ob sie in einem Galaxienhaufen oder frei im All beheimatet ist.“ Genau dieses Wissen können die Forschenden aus dem PAU Survey entnehmen.
Die Anzahl der Nachbargalaxien ermitteln
Der Datensatz umfasst 1,8 Millionen Galaxien aus einem 50 Quadratgrad großen Bereich des Himmels. „Das ist eine Fläche, in die 200-mal der Vollmond hineinpassen würde“, veranschaulicht Anna Wittje. Die Aufnahmen stammen vom Willhelm-Herschel-Teleskop auf La Palma. Jede Galaxie wird damit 40-mal in einem anderen Wellenlängenbereich abgelichtet. Daraus können die Forschenden die Rotverschiebung und somit die Entfernung der Galaxie zur Erde berechnen; das Licht von weiter entfernt liegenden Galaxien ist zu röteren Wellenlängen hin verschoben. Aus den Daten lässt sich auch rekonstruieren, wie viele Nachbargalaxien jedes Objekt hat.
Ergänzung für andere Datensätze
Damit liefert der PAU Survey ein Puzzlestück, das andere Projekte perfekt ergänzt, beispielsweise die Euclid-Mission, an der Hendrik Hildebrandt ebenfalls beteiligt ist. Auch das Euclid-Team arbeitet mit der Rotverschiebung und dem Gravitationslinseneffekt, kann allerdings keine Informationen über die Umgebung der vermessenen Galaxien erzeugen.
„Aus anderen Datensätzen kann man entweder die Entfernung von wenigen einzelnen Galaxien präzise und mit viel Aufwand bestimmen oder die Entfernung für Milliarden von Galaxien relativ grob ermitteln“, vergleicht Hendrik Hildebrandt. „In beiden Fällen erfährt man jedoch nichts über die Umgebung, weil man entweder nur einzelne Galaxien betrachtet oder das Bild zu verwaschen ist, um die Umgebung analysieren zu können.“ Der PAU Survey liegt dazwischen: Der Survey hat eine mittlere Genauigkeit und umfasst eine mittelgroße Menge an Galaxien, aber enthält dafür Informationen über deren Umgebung. Dieses Wissen kann nun für die Analyse anderer Datensätze genutzt werden. Die Kombination dieser Datensätze soll eines Tages die Natur der Dunklen Energie offenbaren.
Der Bochumer Beitrag zu der Arbeit wurde unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen eines Heisenberg-Grants (Hi 1495/5-1) und des Sonderforschungsbereichs SFB1491 „Cosmic Interacting Matters“ sowie vom European Research Council im Rahmen eines Consolidator Grants (Grantnummer 770935).
D. Navarro-Gironés et al.: The PAU Survey: Photometric Redshift Estimation in Deep Wide Fields, in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2024, DOI: 10.1093/mnras/stae1686
F. Castander, S. Serrano, M. Eriksen, E. Gaztanaga et al, The PAU Survey: Photometric Calibration of Narrow Band Images, in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2024, DOI: 10.1093/mnras/stae1507
18. September 2024
10.38 Uhr