Interview Eingreifen, bevor eine Krankheit ausbricht
Disease Interception zielt darauf, Erkrankungen entgegenzuwirken, während sie entstehen. Dafür müssten noch gesunde Menschen Medikamente nehmen. Das ist in unserem Gesundheitssystem aber gar nicht vorgesehen. Was tun?
Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um Disease Interception durchführen zu können, wenn sie in Zukunft bei bestimmten Erkrankungen möglich sein wird? Dies haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vom Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht der Ruhr-Universität Bochum erarbeitet. Zu der anschließenden Tagung luden sie Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachrichtungen zur Diskussion ein.
Der resultierende Tagungsband ist als Open-Access-Publikation erschienen. „Damit möchten wir Experten des Gesundheitssystems und politischen Entscheidungsträgerinnen eine erste Orientierung bieten, welche Herausforderungen durch das Konzept der Disease Interception entstehen“, erklärt Mit-Herausgeberin Dr. Lara Wiese. Im Interview spricht sie über die Chancen und mögliche Herangehensweisen.
Frau Dr. Wiese, was ist Disease Interception?
Ihr Ziel ist es, einen Prozess, der wahrscheinlich zu einer Erkrankung führen wird, durch eine medikamentöse Intervention aufzuhalten, zu verzögern oder im Idealfall umzukehren.
Originalveröffentlichung
Bei welchen Erkrankungen kann das funktionieren?
Vor allem bei solchen, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln, immer weiter fortschreiten und im ausgeprägten Stadium sehr schlecht oder gar nicht mehr behandelbar sind, wie Alzheimer oder einige Krebserkrankungen.
Wird Disease Interception bereits angewendet?
Sie befindet sich noch in der Entwicklung. Eine besondere Rolle spielen hierbei Biomarker, beispielsweise im Blut, die darauf hindeuten, dass sich bestimmte Erkrankungen anbahnen. Prof. Dr. Klaus Gerwert, Inhaber des Lehrstuhls für Biophysik, ist gerade dabei, einen prädiktiven Alzheimer-Test bis zur Marktreife zu entwickeln. Dieser kann die Krankheitsspezifischen Biomarker in Körperflüssigkeiten nachweisen – 17 Jahre bevor die ersten Symptomen auftreten.
Will man viele Jahre vor dem möglichen Ausbruch wissen, dass man vielleicht Alzheimer bekommen wird?
Was würde passieren, wenn ein solcher Test auf den Markt käme?
Falls dann auch eine Therapie verfügbar wäre, müsste man sich überlegen, ob man ihn als Vorsorgeuntersuchung für alle anbieten möchte, die gewisse Kriterien erfüllen, also zum Beispiel ein bestimmtes Alter erreicht haben. Allerdings bleibt zu bedenken, dass frühdiagnostische Alzheimer-Tests auch mit ethischen und gesellschaftlichen Implikationen verbunden sind, die man diskutieren sollte: Will man viele Jahre vor dem möglichen Ausbruch überhaupt wissen, dass man vielleicht Alzheimer bekommen wird, vor allem, wenn gar nicht klar ist, wann und ob man etwas dagegen machen sollte?
Ist es nicht problematisch, Menschen zu behandeln, die noch gar nicht krank sind?
Problematisch kann es werden, wenn ein (noch) gesunder Mensch Medikamente bekommen soll, die Risiken und Nebenwirkungen haben. Ob er diese in Kauf nehmen will, um eine Krankheit zu verhindern, von der nicht sicher ist, ob er sie wirklich bekommen würde, ist eine sehr schwierige Entscheidung.
Dementsprechend wichtig ist eine gut funktionierende Risikokommunikation seitens der Medizinerinnen und Mediziner und eine umfassende Information der Betroffenen. Sie müssen sich frei für oder gegen eine Disease Interception entscheiden können, in Kenntnis aller Umstände. Natürlich müssen wir auch sicherstellen, dass diese stets ein freiwilliges Angebot bleibt.
Was haben Sie in Ihrem Forschungsprojekt untersucht?
Besonders wichtig war uns folgende Frage: Wenn ein Pharmaunternehmen eine Möglichkeit zur Disease Interception entwickelt hätte, könnte ich als gesetzlich versicherte Person diese Medikation in Anspruch nehmen? Die Disease Interception lässt sich nicht in die gängigen Kategorien und Leistungsarten einordnen.
Sie beinhaltet ein therapeutisches Element und ist mehr als bloße Prävention, aber auch keine klassische Krankenbehandlung, die nach jetziger Rechtslage nur erkrankten Personen zusteht. Rechtlich gesehen müssen wir also klären, wie wir eine medikamentöse, krankenbehandlungsähnliche Therapie durchführen können, bevor eine Krankheit ausbricht.
Förderung
Haben sie auch schon Lösungen erarbeitet?
Wir haben uns zunächst darauf konzentriert, die Herausforderungen bei der Entwicklung und Anwendung der Disease Interception und ihrer Integration in das System der Gesetzlichen Krankenversicherung zu analysieren und erste Denkanstöße formuliert, wie sie perspektivisch gelingen könnte.
Bei unserer Tagung wurde klar, dass noch viele Fragen offen sind: Verändert sich der Patientenbegriff durch Disease Interception? Was bedeutet das Konzept für Patientinnen und Patienten? Wie will man den Nutzen von entsprechenden Behandlungsansätzen bewerten?
Unser Tagungsband beleuchtet das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven: denen der Versorgung, der Forschung, des Leistungsrechts und der Ethik. Zudem legen wir ein besonderes Augenmerk auf die Gesundheitsdatennutzung und den Datenschutz.
Welche Daten braucht man für Disease Interception?
Grundvoraussetzung dafür, mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) Zusammenhänge zwischen bestimmten Biomarkern und späteren Erkrankungen entdecken zu können, ist die Verfügbarkeit von gut strukturierten hochqualitativen Gesundheitsdaten. Dafür sorgen unsere Kooperations-Partnerinnen und -Partner von der Universitätsmedizin Essen mit ihrem Smart Hospital.
Sie haben uns Juristen im Rahmen des Projekts in ihrem KI-Showroom gezeigt, was inzwischen alles möglich ist und woran aktuell noch gearbeitet wird. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist notwendig, um die Bedürfnisse und Begebenheiten der Praxis zu berücksichtigten, denn manche Probleme werden einem erst bei solchen Begegnungen bewusst.