
Für die Menschen war Getreide in der Antike die Basis der Ernährung.
Theologie Der Kult ums Korn
Antike Mysterienkulte haben Spuren im Neuen Testament hinterlassen. Welche hat Theologe Peter Wick erforscht.
Im Wald saßen die Männer zunächst drei Tage in einer Grube, ohne diese zu verlassen. Anschließend erteilten die Alten, die bereits eingeweiht waren, den Jüngeren Aufgaben, zum Beispiel einen Baum zu fällen oder einen bestimmten Ort aufzusuchen – oft, ohne den Sinn dahinter zu verraten. Keiner wusste genau, was im Wald geschieht. Mit dieser Anekdote eines Forschungskollegen, der an einem afrikanischen Ritual teilnehmen durfte, beschreibt der Bochumer Theologe Prof. Dr. Peter Wick, woran er forscht. „Die Männer verbrachten mehrere Monate im Wald – eine Erfahrung, die mein Kollege als extrem verbindend beschrieb“, erzählt er. „Er sagte zu mir, wenn er einen Afrikaner in Europa treffen würde, wüsste er schon vor der Begrüßung, ob er im Wald gewesen sei oder nicht.“
Rituale wie diese, die eine nicht in Worte zu fassende Erfahrung mit sich bringen, finden sich von der Antike bis heute. „Ihr Inhalt bleibt für Nichteingeweihte ein Geheimnis, selbst wenn die Rituale verraten werden. Ihr Geheimnis kann nur durch gemeinsame Erfahrungen geteilt werden“, sagt Peter Wick. Er leitet an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum den Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments, Geschichte des Urchristentums und erforscht seit vielen Jahren antike Mysterienkulte und ihre Einflüsse auf die Schriften des Neuen Testaments.
Der wichtigste antike Fruchtbarkeitskult
Der wichtigste antike Fruchtbarkeitskult war seit dem 4. Jahrhundert vor Christus der Demeter-Kult. Sein Name geht zurück auf die griechische Erd- oder Korngöttin Demeter. Laut einem Mythos hatte Demeter eine Tochter namens Persephone, welche von dem Gott Hades in die Unterwelt entführt wurde. Der Göttervater Zeus half Demeter zunächst nicht. Diese trauerte so sehr um ihre Tochter, dass sie den Pflanzen verbot zu wachsen. „Unter den Menschen brach eine Hungersnot aus“, erzählt Peter Wick. „Sie konnten den Göttern nichts mehr opfern – das stresste die im Olymp.“ Nun endlich handelte Zeus nach diesem Mythos und bewirkte einen Kompromiss zwischen Hades und Demeter. Fortan lebte Persephone vier Monate des Jahres in der Unterwelt und die restliche Zeit bei ihrer Mutter. „Diese Abfolge spiegelt den Kornzyklus wider“, erklärt Wick.

Seit 20 Jahren befasst sich Peter Wick mit dem Thema Geheimnis. Über 400 Seiten hat er dem Ergebnis seiner Forschung zu Mysterien im Evangelium gewidmet. Das Buch ist 2023 im Verlag Brill Schöningh erschienen.
Die Hochburg des Demeter-Kults war die Stadt Eleusis, 30 Kilometer nördlich von Athen, seit Jahrhunderten die Getreidekammer Griechenlands. Anhänger des Kults versammelten sich regelmäßig nach einer Prozession im Telesterion, einem Gebäude mit großer Öffnung nach oben. Darin wurde in der Weihe-Nacht ein großes, schnell entflammendes Feuer entzündet. „Plötzlich war Licht in der Finsternis“, beschreibt Peter Wick. „Solche Gegensätze wie Licht und Finsternis gehören zu Mysterienkulten dazu. Auf dem Höhepunkt der Zeremonie wurde das Heiligste gezeigt: eine Ähre. In dieser sahen die Eingeweihten das Geheimnis des Lebens.“
Tod als Voraussetzung für neues Leben
Für die Menschen war Getreide in der Antike die Basis der Ernährung. Sie konnten aber nicht das gesamte geerntete Korn zu Mehl mahlen. Ein Teil wurde neu ausgesät. „Dieses Korn wurde für die Menschen quasi vernichtet, sie konnten es nicht mehr sehen“, beschreibt Peter Wick. „Das war die Voraussetzung für neue Ähren im nächsten Jahr. Damit einher ging der Glaube, dass der Tod die Voraussetzung für neues Leben ist.“
Im 6. bis 4. Jahrhundert vor Christus entstand die Hoffnung, dass man als Eingeweihter eines Mysterienkults ein Ticket in eine bessere Welt nach dem Tod erhält.
Zu dieser Zeit herrschte die Vorstellung, dass nach dem Tod eine düstere Schattenexistenz auf die Menschen warten würde. „Aber im 6. bis 4. Jahrhundert vor Christus entstand die Hoffnung, dass man als Eingeweihter eines Mysterienkults ein Ticket in eine bessere Welt nach dem Tod erhält, auch wenn diese Vorstellung sehr unscharf war“, so der Bochumer Theologe. Tote erhielten als Grabbeigabe sogar Wegbeschreibungen, die den Pfad in diese bessere Welt weisen sollten. „Dort stand, wo man links abbiegen muss, oder welches Wort man an welcher Stelle sprechen muss“, veranschaulicht Wick. Der Glaube, dass der Tod das Ende nach dem Leben ist, wurde in Mysterienkulten abgelöst durch einen Zyklus: Leben – Tod – Leben. Nicht nur im Demeter-Kult, auch in vielen anderen antiken Kulten, die daraus entstanden, waren ähnliche Muster zu finden.
Elemente aus Mysterienkulten halten Einzug ins Neue Testament
In seiner Forschung zeigt Peter Wick viele Beispiele auf, wo Elemente aus antiken Mysterienkulten gezielt ins Neue Testament übernommen wurden, obwohl der jüdische Rahmen sie nie vorgesehen hatte. Im Alten Testament, also in den jüdischen Grundlagen des Christentums, fand sich die positive Todesdeutung nicht. „Gott war der Gott des Lebens. Der Tod war der letzte Feind und Gott war größer als dieser Feind“, beschreibt Wick die damalige Vorstellung.
So lässt der Evangelist Johannes Jesus in Kapitel 12 sprechen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ Der Tod wird plötzlich zur notwendigen und positiven Voraussetzung zum Leben. Wick erklärt: „Dieser Inhalt stammt nicht aus den jüdischen Quellen, sondern spiegelt das Eleusis-Ritual des Demeter-Kults.“
Die Erde als Gegenkraft zu Gott
Ein weiteres Beispiel findet sich im Markus-Evangelium im Gleichnis der selbstwachsenden Saat: „Mit dem Reich Gottes ist es wie bei einem Bauern. Er streut die Körner auf das Land, dann legt er sich schlafen und steht wieder auf – tagaus, tagein. Die Saat geht auf und wächst – aber der Bauer weiß nicht, wie das geschieht. Ganz von selbst bringt die Erde die Frucht hervor. Zuerst den Halm, dann die Ähre und zuletzt den reifen Weizen in der Ähre. Wenn das Getreide reif ist, schickt er sofort die Erntearbeiter los, denn die Erntezeit ist da.“ In diesem Gleichnis wird die Erde zum Subjekt. Es braucht nicht nur den göttlichen Impuls, die Aussaat, um das Korn wachsen zu lassen, sondern auch die Erde als Gegenkraft von unten zur göttlichen Kraft von oben. Auch das erinnere an die antiken Kulte.
Bei den Evangelisten Matthäus und Lukas, die eigentlich das Markus-Evangelium als Vorlage nutzten, taucht die selbstwachsende Saat hingegen nicht auf. „Ihnen hat das Gleichnis anscheinend nicht gefallen“, deutet Wick. „Sie haben es gezielt nicht übernommen.“ Er geht davon aus, dass Markus das Gleichnis der selbstwachsenden Saat nicht nur einbaute, um seine Schriften besser verständlich zu machen – wie lange geglaubt wurde. „Ich bin überzeugt, dass Elemente aus den antiken Kulten in das Neue Testament eingebracht wurden, um die Lehre zu bereichern“, bringt Peter Wick die zentrale Erkenntnis seiner Forschung auf den Punkt.
So wurden im interkulturellen Kontakt religiöse Elemente aus diesen Fruchtbarkeitskulten sogar gegen die eigene Tradition aufgenommen. Die Menschen deuteten Tod und Sterben positiv als notwendige Voraussetzung für neues Leben. Weitere zentrale Motive der Mysterienkulte wie Geburt, Wachstum, Samenkörner, Ernte und die Vorstellung von einem Geheimnis im Zentrum von allem Sein, das nicht mit Worten zu vermitteln ist, hielten Einzug in das Neue Testament. Nicht rationalisierbare Erfahrungen als Kern von Religion und eine Erde, die nicht nur ein Objekt für die Menschen ist, sondern eine eigene Persönlichkeit hat, sind Elemente, die heute wieder aktuell werden. „Die ökologische Bewegung erinnert uns mit Nachdruck an unsere Abhängigkeit von ‚Mutter Erde‘, und immer mehr Menschen sehnen sich nach dem Geheimnisvollen in der Natur und in der Religion“, veranschaulicht Peter Wick.
Nicht alle Verfasser des Neuen Testaments waren mit den interkulturellen Übernahmen einverstanden. „Wir sehen hier Spuren eines Diskurses im frühen Christentum, wie weit es als jüdische Bewegung Elemente aus seiner religiösen Umwelt übernehmen darf“, so Peter Wick.
Wissenschaftsmagazin Rubin kostenlos abonnieren