In seiner Sprechstunde klärt Humangenetiker Huu Phuc Nguyen über Morbus Huntington und andere seltene Erbkrankheiten auf. 

© Damian Gorczany

Humangenetik Das Geheimnis der Gene lüften

Habe ich das Gen für eine unheilbare Krankheit vererbt bekommen? Und möchte ich das wissen? 

Venezuela, 1981. In einem kleinen Fischerdorf am Ufer des Maracaibo-Sees sammelt die US-Amerikanerin Nancy Wexler gemeinsam mit einem Team aus internationalen Wissenschaftlern Blutproben von Menschen, die an Huntington erkrankt sind. Nirgendwo auf der Welt leben mehr Menschen mit dieser Erkrankung. Wexler hat ihre Mutter, ihre Onkel und ihren Großvater an Huntington verloren. Sie ist Neuropsychologin und Vorsitzende der Hereditary Disease Foundation. Dank der von ihrem Team gesammelten Proben gelingt es 1983, den DNA-Marker für die Erbkrankheit grob zu lokalisieren. Ab 1986 kann man sich darauf testen lassen. Seit 1993 – das Gen wurde an der Spitze von Chromosom Vier entdeckt – ist der Gen-Test zu hundert Prozent sicher.

Rom, 2017. Papst Franziskus hat etwa 2.000 Menschen – Huntington-Erkrankte und ihre Verwandten, Mediziner und Forschende – zur Audienz in den Vatikan geladen. Mit dabei: die Familien aus Venezuela, deren Blutproben die Identifizierung des Gens möglich machten. Unter dem Motto „Hidden no more“ setzt sich das Oberhaupt der katholischen Kirche in einer bewegenden Ansprache dafür ein, dass sich Betroffene und ihre Angehörigen nie wieder verstecken, ausgegrenzt oder alleingelassen fühlen müssen. 

Bochum, 2025. Auf dem Campus der Ruhr-Universität Bochum treffen wir Prof. Dr. Huu Phuc Nguyen, der hier die humangenetische Beratung und Diagnostik leitet. Seine Abteilung für Humangenetik bildet gemeinsam mit der Klinik für Neurologie am St. Josef-Hospital das Huntington Zentrum NRW, eines der weltweit größten Zentren zur Diagnostik, Behandlung und Erforschung der Erbkrankheit. 

Huu Phuc Nguyen leitet den Lehrstuhl für Humangenetik an der Ruhr-Universität Bochum.

© Damian Gorczany

Huntington Zentrum NRW

Das Huntington Zentrum NRW ist eines der wenigen Zentren weltweit, die an innovativen Studien zu Huntington-reduzierenden Therapieansätzen teilnehmen. Auch im klinischen Forschungszentrum vor Ort werden Studien zum Einsatz neuer Medikamente bei der Huntington–Erkrankung durchgeführt. 

Nguyen ist nicht nur Experte, wenn es um genetische Fragestellungen rund um Huntington und andere seltene erbliche Erkrankungen geht. Der Arzt betreut und berät mit seinem Team über 500 Patient*innen im Jahr und weiß um die Last auf ihren Schultern, und auch um das Stigma, das erblichen Krankheiten anhaftet. 

Allein schon der Begriff Chorea Huntington trägt zur Stigmatisierung bei.

— Huu Phuc Nguyen

„Allein schon der Begriff Chorea Huntington trägt zur Stigmatisierung bei. Chorea, auch Veitstanz genannt, suggeriert, die Erkrankten seien vom Teufel besessen“, kritisiert Nguyen. Früher wurden viele Huntington-Erkrankte deswegen in Psychiatrien untergebracht. Auch in den Fischerdörfern in Venezuela hielt man sie lange Zeit versteckt. Umso wichtiger findet Nguyen daher Initiativen wie „Hidden no more“, die unter anderem den betroffenen Venezolanern die Reise nach Rom ermöglichte. 

Hidden no more

Die Initiative wurde von dem britischen Journalisten Charles Sabine gegründet und setzt sich für die Entstigmatisierung der Huntington-Community und ihre Sichtbarkeit ein.

Nguyen selbst nahm 2017 in Rom an der Audienz teil. „Ein sehr berührender Moment. Und so wichtig für die Entstigmatisierung der Menschen mit dieser Erbkrankheit, die insbesondere im katholisch geprägten Venezuela stark verbreitet ist.“

Gegen die Stigmatisierung

Der Humangenetiker versteht sich als Advokat der Erkrankten, will aufklären, sie ins öffentliche Bewusstsein bringen. Morbus Huntington zählt zu den seltenen Erbkrankheiten. In Deutschland erkrankt etwa einer von 10.000 daran. „Die Krankheit geht einher mit Bewegungsstörungen, sogenannten Überbewegungen, sowie kognitiven und psychiatrischen Störungen. Viele Betroffene entwickeln eine Demenz. Angehörige berichten außerdem, wie sich das Wesen der Betroffenen verändert, dass sie etwa aggressiver, ungeduldiger, apathischer werden, sich zurückziehen, Depressionen entwickeln“, so der Mediziner. Die ersten Symptome tauchen im mittleren oder späten Lebensalter auf. „Die Meisten erkranken zwischen 30 und 50 Jahren. Huntington schreitet dann über einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren fort, bis die Patient*innen sterben“, erklärt Nguyen. 

George Huntington

Namensgeber ist der amerikanische Arzt George Huntington. Dieser entdeckte 1871 als Erster, dass die Erkrankung erblich ist. 


Dank Nancy Wexlers unermüdlichem Einsatz kennt man heute die erbliche Ursache. „Huntington ist die Modellerkrankung der Genetik. Kinder von Betroffenen – wie Nancy Wexler – haben eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, selbst Mutationsträger zu sein“, erklärt der Mediziner. 

Unsere Chromosomen und Huntington

Menschen besitzen in der Regel 46 Chromosomen, die in Form von 23 Paaren vorliegen. Die Chromosomen 1 bis 22 werden als Autosomen bezeichnet, die Geschlechts-Chromosomen bilden das 23. Paar. Eine Veränderung in einem bestimmten Genabschnitt des vierten Chromosoms führt zur Huntington-Krankheit. Dabei reicht es, wenn eines der beiden Chromosomen im Paar verändert ist. Da die Erkrankung über ein Autosom vererbt wird und auch dann ausbricht, wenn nur eines der beiden Vierer-Chromosomen betroffen ist, spricht man von einer autosomal-dominanten Vererbung.

Mithilfe eines Gen-Tests können Humangenetiker wie Nguyen die Erkrankung heute mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Nur: Möchte man das wissen? Und wie geht man mit dem Ergebnis um? Wie geheim hält man die Diagnose? Wem erzählt man davon? Und wie? All das sind Fragen, mit denen Menschen in Nguyens Beratung kommen.

In der Sprechstunde

„Manchmal stehen die Leute mit 18 direkt hier auf der Matte und sagen ‚Ich möchte es wissen, jetzt bin ich alt genug und kann es selbst entscheiden‘“, erzählt Nguyen. Häufig suchen auch Paare mit Kinderwunsch Nguyen auf, von denen einer das Gen möglicherweise in sich trägt. Wieder andere sind 50 oder 60 Jahre alt, zeigen noch keine Symptome und wünschen sich für sich oder ihre Kinder Gewissheit. Einige wollen sich auch erst einmal nur informieren. „Und natürlich kommen auch Leute in die Sprechstunde, die Symptome haben und wo es bereits eine klinische Verdachtsdiagnose gibt“, so Nguyen.

Das Huntington-Gen

Das Gen, das Huntington auslöst, enthält, wie alle unsere Gene, einen Bauplan für ein bestimmtes Protein. Dieser Bauplan besteht aus einer bestimmten Wiederholung der vier Basen Cytosin (C), Adenin (A), Guanin (G) und Thymin (T). Bei gesunden Menschen gibt es im Huntington-Gen eine Aneinanderreihung von in der Regel höchstens 35 Wiederholungen der Basen-Kombination CAG. Bei Menschen mit der Huntington-Krankheit enthält das gleiche Gen jedoch den Bauplan für eine Kette mit mehr als 39 Wiederholungen. Menschen mit CAG-Wiederholungen zwischen 36 und 39 können ebenfalls an Huntington erkranken (müssen es aber nicht).


Der Humangenetiker klärt im Beratungsgespräch über die Krankheit auf. Auch darüber, dass es bisher keine heilende Therapiemöglichkeiten gibt. „Wir können zwar gewisse Symptome lindern, Medikamente gegen die Bewegungsstörung verordnen und Antidepressiva verschreiben, aber wir können den Verlauf der Krankheit nicht aufhalten. Bisher sterben alle Patient*innen an der Krankheit“, so Nguyen. Möchte man also wissen, ob man das Gen in sich trägt?

Weltweit entscheidet sich die Mehrheit gegen den Gen-Test.

— Huu Phuc Nguyen

„Weltweit entscheidet sich die Mehrheit gegen den Test. Studien zeigen, dass nur circa 20 Prozent derer, die wissen, dass ein Elternteil Genträger ist, eine vorhersagende Untersuchung durchführen lassen“, weiß Nguyen. Das würde sich ändern, wenn es Therapien gebe. „Die Menschen, die zu uns kommen, haben sich das im Vorfeld meist gut überlegt und entscheiden sich mehrheitlich für eine genetische Untersuchung“, fügt er hinzu. 

Beratung zu seltenen Erbkrankheiten

In ihrer Sprechstunde beraten Prof. Dr. Huu Phuc Nguyen und seine Kollegin Dr. Sabine Hoffjan nicht nur zu Morbus Huntington, sondern auch zu anderen seltenen (un-)heilbaren Erbkrankheiten. Dazu zählen etwa genetisch bedingte Muskelerkrankungen wie die spinale Muskelatrophie (SMA) oder die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) sowie neurogenetische Erkrankungen (Ataxien, erbliche Demenzerkrankungen, erbliche Schlaganfälle). 

Darüber hinaus bietet das Team Spezialsprechstunden zu erblichen Tumorerkrankungen, zum Beispiel familiärem Brust- und Eierstockkrebs oder familiärem Darmkrebs an.

Das vollständige Leistungsspektrum finden Sie hier.

Das Team steht dabei im engen Austausch mit anderen Fachdisziplinen, dem Katholischen Klinikum Bochum, anderen regionalen Krankenhäusern, Zentren und niedergelassenen Ärzten.

Außerdem arbeitet es eng mit dem Centrum für Seltene Erkrankungen Ruhr (CeSER) zusammen. 

So erreichen Sie die Praxis für Humangenetik:
Telefon: +49 234 32 23008
E-Mail: humangenetik@klinikum-bochum.de
Hier geht es zur Webseite der deutschen Huntington-Selbsthilfe


Und wie geht es dann weiter? „Insbesondere bei denjenigen, die bereits Symptome zeigen, nehmen wir direkt Blut ab. In aller Regel wird beim ersten Termin jedoch kein Blut abgenommen“, betont Nguyen. Nach einer gewissen Bedenkzeit und gegebenenfalls einer psychologischen Betreuung dürfen die Patient*innen zur Blutabnahme vorbeikommen. Und nach wenigen Wochen können sie dann einen Termin vereinbaren, um das Ergebnis zu erfahren. „Es gibt Patient*innen, die es sich nach dem Gespräch noch einmal anders überlegen. Andere geben Blut ab, aber holen ihr Ergebnis nicht ab“, erzählt Nguyen. 

Der verschlossene Umschlag

Das Ergebnis kennt nur das Labor. Es liegt in einem verschlossenen Umschlag, den Arzt und Patient*in gemeinsam öffnen. „Die Patient*innen können also vorab weder an meiner Stimme am Telefon noch anhand meiner Mimik im Termin auf das Ergebnis schließen.“ Beim Gespräch sind außerdem Angehörige oder Vertrauenspersonen anwesend. Bestätigt das Ergebnis die Verdachtsdiagnose Huntington, wird gemeinsam überlegt, wie es weitergeht. „Wir bieten weitere Gespräche an und vermitteln psychologische Unterstützung und Selbsthilfegruppen. Es gibt auch die Möglichkeit, an Studien zum Einsatz neuer Medikamente teilzunehmen,“ so Nguyen.

Gendiagnostikgesetz

Während es in anderen Ländern die Möglichkeit gibt, das persönliche Genom vollständig analysieren zu lassen (Direct-to-consumer-Gentests), erlaubt das deutsche Gesetz eine genetische Diagnostik nur, wenn sie ein Arzt in Auftrag gegeben hat. Eine prädiktive Untersuchung darf zum Beispiel ausschließlich im Rahmen einer genetischen Beratung durchgeführt werden. Dazu sucht man die Humangenetik oder das jeweilige Fachgebiet auf. Das Gesetz regelt auch die Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik. So dürfen zum Beispiel spät manifestierende Krankheiten wie Huntington pränatal nicht diagnostiziert werden. Vor der Implantation der befruchteten Eizelle ist dies unter strengen Auflagen erlaubt.


Wie stehen denn die Chancen, dass Huntington heilbar wird? „Insbesondere in den USA wird die Forschung mit Millionenbeträgen unterstützt, etwa durch die Cure Huntington’s Disease-Foundation.“ Auch die Pharmaindustrie sei involviert. „Wenn wir also eine der vielen unheilbaren Erkrankungen heilen werden können, dann ist es diese“, ist Nguyen überzeugt. „Die Huntington-Community ist gut vernetzt und organisiert. Aktuell laufen 14 weltweite Therapie-Studien, sodass wir guter Hoffnung sind, dass es irgendwann eine Möglichkeit geben wird.“ 

Auf öffentlicher Bühne

Das stimmt vielleicht jene etwas zuversichtlicher, die das Gen möglicherweise in sich tragen. Menschen wie Marco Schreyl. Der TV- und Radio-Moderator rang lange mit sich, bis er 2023 den Schritt in die Öffentlichkeit wagte und in einem Buch von seiner an Huntington verstorbenen Mutter erzählt. Er reiht sich damit in die Liste an Prominenten wie Angelina Jolie oder Stephen Hawking ein, die in der Vergangenheit kein Geheimnis aus ihrem Umgang mit genetisch bedingten Krankheiten wie familiärem Brust- und Eierstockkrebs oder amyotropher Lateralsklerose gemacht haben.

Marco Schreyl hat sich bis heute nicht auf das Huntington-Gen testen lassen. Ebenso wie Nancy Wexler, die ihr ganzes wissenschaftliches Leben der Erforschung von Huntington gewidmet hat.

Next-Generation-Sequencing (NGS)

NGS ist eine Technologie zur Hochdurchsatz-Analyse von DNA, die in der modernen genetischen Diagnostik häufig zur Abklärung genetisch bedingter Erkrankungen eingesetzt wird. In diesem Verfahren werden viele hunderte Gene parallel sequenziert, um kleinste Veränderungen, wie zum Beispiel Mutationen sichtbar zu machen. NGS wird in der Praxis für Humangenetik in Bochum eingesetzt, um Gene, die möglicherweise mit einem bestimmten Krankheitsbild zusammenhängen, in einem einzigen Sequenzierlauf lesen und analysieren zu können. Dadurch erhält man Sequenzierergebnisse von vielen tausend Molekülen, die auch individuell bioinformatisch ausgewertet werden können.

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Veröffentlicht

Montag
28. April 2025
09:04 Uhr

Dieser Artikel wird am 2. Juni 2025 in Rubin 1/2025 erscheinen.

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