Interview „Das Problem motiviert uns"
Studierende der Ruhr-Universität Bochum wollen den Arbeitsmarktzugang für blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland verbessern. Sie sind Teil des Social-Start-ups BLINC.
Blinde und sehbehinderte Menschen sind in Deutschland überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen. Um Unternehmen stärker für das Leben von Menschen mit Sehbehinderung zu sensibilisieren, organisiert das Social-Start-up BLINC Workshops, Key Notes und Veranstaltungen rund um die Themen Low-Vision-Awareness, Barrierefreiheit und Resilienzbildung.
Als eines von fünf Gewinnerteams der Santander Entrepreneurial Idea Competition 2022 durften Samuel Sommerhoff, Dominic Döpper und Jan Paul Robel von BLINC im Juli 2023 das renommierte Babson College in Boston besuchen. Im Interview erzählen sie, wie es ist, neben dem Studium ein Start-up aufzubauen, und warum sich soziales Engagement lohnt.
Welche Gründungsidee steckt hinter eurem Start-up BLINC?
Samuel Sommerhoff: Drei von vier Blinden im erwerbsfähigen Alter sind in Deutschland arbeitslos; bei den Sehbehinderten ist es jeder Zweite. Eine erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe kann aber nur gelingen, wenn Menschen auch am Arbeitsleben teilhaben. Bereits 2018 ist deshalb bei Enactus die Idee entstanden, den Arbeitsmarktzugang für Blinde und sehbehinderte Menschen zu verbessern. Da ich selbst hochgradig sehbehindert, beziehungsweise gesetzlich blind bin, hat mich eine Freundin auf das Projekt aufmerksam gemacht. Gemeinsam mit meiner Mitgründerin Marit habe ich die Idee dann weiterentwickelt.
Enactus
Was motiviert euch, neben dem Studium eine Gründungsidee zu verfolgen?
Samuel: Im Grunde motiviert uns das Problem. Die Arbeitslosenquote von blinden Menschen liegt, laut Schätzungen von Dr. Heinz Willi Bach von der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA), bei rund 75 Prozent. Das ist so nicht akzeptabel.
Für mehr soziale Gerechtigkeit zu arbeiten, ist sehr erfüllend.
Jan Paul Robel: Mir war seit dem ersten Semester klar, dass ich neben meinem theoretischen Studium auch etwas mit sozialer Verantwortung machen will. Anfangs wollte ich lieber ins Ausland statt zu BLINC, aber im Nachhinein habe ich gesehen, wie stark die Problemlage auch hier in Deutschland ist. Für mehr soziale Gerechtigkeit zu arbeiten, ist sehr erfüllend, auch wenn ich nicht selbst betroffen bin.
Dominic Döpper: Auch ich bin nicht selbst von einer Sehbehinderung betroffen, werde durch meine Arbeit bei BLINC aber immer stärker für das Thema sensibilisiert. Eine Virtual-Reality-Anwendung, die wir entwickelt haben, hilft beispielsweise, die Erfahrungen, die Menschen mit Sehbehinderung machen, besser zu verstehen.
Und wie genau will BLINC die Inklusion von blinden und sehbehinderten Menschen in Deutschland fördern?
Samuel: Das Geschäftsmodell von BLINC ist zweigeteilt. Zum einen zielen wir darauf ab, Unternehmen für das Thema „Low Vision“ zu sensibilisieren. Dabei vermitteln wir auch praktisches Wissen über digitale Technologien und Arbeitsweisen für Blinde und Sehbehinderte. Zum anderen arbeiten wir an einer digitalen Jobplattform, auf der wir als Headhunting-Modell gezielt Personen mit Low-Vision-Background vermitteln wollen.
Die Digitalisierung stellt nach der Brailleschrift die zweite Revolution im Low-Vision-Bereich dar.
Welche Rolle spielen digitale Technologien bei der Arbeitsmarktintegration von sehbehinderten Menschen?
Samuel: Die Digitalisierung, und damit auch das Smartphone als mobiles digitales Endgerät, stellt die zweite Revolution im Low-Vision-Bereich nach der Brailleschrift dar. Das setzt in der gesamten Arbeitswelt neue Chancen und Potenziale frei. Viele Unternehmen nutzen diese aber noch nicht ausreichend. Wir klären Unternehmen über die technologischen Fortschritte der letzten 15 Jahre auf, dazu zählen beispielsweise Screenreader, die Bildschirminhalte auditiv wiedergeben.
Das klingt nach viel Arbeit. Wie bringt ihr Studium und Unternehmertum unter einen Hut?
Samuel: Wenn man ein Start-up gründen möchte, muss man bereit sein, Prioritäten anders zu setzen. Wir haben Glück, da unser Studiengang dank Online-Aufzeichnungen eine gewisse Flexibilität zulässt. Unsere Meilensteine führen uns dann zusätzlich immer wieder den Sinn unseres Engagements vor Augen.
Ich kann nur jedem empfehlen, neben dem Studium Teil eines Social-Start-ups zu sein.
Jan Paul: Ich finde ich es wahnsinnig erfüllend, das Erlernte aus meinem Management-and-Economics-Studiengang in der Praxis anwenden zu können. Wir können an coolen Events teilnehmen, praktische Erfahrungen sammeln und Kontakte knüpfen. Ich kann nur jedem empfehlen, neben dem theoretischen Studium Teil eines Social-Start-ups zu sein.
Wie unterstützt euch die Ruhr-Universität bei Aufbau eures Start-ups?
Samuel: Unterstützung bekommen wir zum einen durch Enactus, besonders im Recruiting-Prozess, der Finanzplanung, und der Übertragung unserer Start-up-Strukturen im Fall eines Exits. Das Worldfactory Start-up Center (WSC) hat uns schon 2019 bei unserem ersten öffentlichen Workshop im Universitätsforum (UFO) wunderbar unterstützt. Seit Juli 2022 haben wir eine gemeinsame Coachingvereinbarung. Alle drei bis vier Wochen setzen wir uns zusammen und besprechen aktuelle Fragen. Außerdem klärt das WSC über die verschiedenen Wettbewerbe und Fördermöglichkeiten auf. Anfang 2023 haben wir so die erste Phase der Proof it!-Förderung genehmigt bekommen und konnten unseren ersten Virtual-Reality-Prototypen entwickeln und auf dem Places Virtual Reality Festival in Gelsenkirchen vorstellen.
Und warum sollten Gründungsinteressierte an der Santander Entrepreneurial Idea Competition teilnehmen?
Jan Paul: Als junges Start-up sollte man jede Gelegenheit nutzen, um an Wettbewerben teilzunehmen. Den Sieg bei der Santander Entrepreneurial Idea Competition fanden wir sowohl auf einer inhaltlichen Kompetenzebene wie auch auf einer persönlichen Ebene bereichernd. Das Babson College in Boston ist eines der besten 20 Wirtschaftscolleges weltweit. Vielmehr Fachkompetenz kann man in zwei Wochen nicht bekommen. Und auch persönlich war das eine wahnsinnig tolle Erfahrung für uns, an der wir als Team wachsen und neue Kontakte knüpfen konnten.
Dominic: Mit uns waren noch vier weitere Gewinnerteams von der Ruhr-Universität in Boston, die ebenfalls noch am Anfang ihres Start-ups stehen. Sich mit diesen Leuten auszutauschen und deren Erfahrungen mitzunehmen, war sehr spannend.
Was würdet ihr gründungsinteressierten Studierenden mit auf den Weg geben?
Samuel: Geht zum WSC, lasst euch beraten. Es gibt beispielsweise in regelmäßigen Abständen Formate wie den „GründerInnen Talk“. Mit ihrem Exzellenz Start-up Center zählt die Ruhr-Universität Bochum mittlerweile laut Gründungsradar 2022 zu den besten Universitäten für Gründungen in Deutschland. Ich glaube, daran sieht man, was hier am Standort mittlerweile alles geschaffen wurde. Und auch wenn ein Start-up viel Arbeit bedeutet, wenn man weiß, wofür man es macht, dann macht man es gerne.
Santander Entrepreneurial Idea Competition