Interview „Der Begriff Völkermord ist für Juristen zur Last geworden“
Wie der Begriff Völkermord im internationalen Recht definiert ist und was diese Definition für die Situation in Gaza bedeutet, erklärt Sabine Swoboda im Interview.
Viele Diskussionen um die Situation im Gazastreifen werden hochemotional geführt. Begriffe wie Völkermord und Kriegsverbrechen stehen im Raum. Prof. Dr. Sabine Swoboda ordnet ein, wie diese Begriffe aus juristischer Perspektive zu bewerten sind, was die beantragten Haftbefehle gegen Hamas-Führer und israelische Politiker zu bedeuten haben und wie viel Menschlichkeit im Rahmen des Humanitären Völkerrechts eigentlich gewahrt werden kann. Swoboda leitet an der Ruhr-Universität Bochum den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht.
Welche Kriterien müssen juristisch betrachtet erfüllt sein, damit der Tatbestand „Völkermord“ gegeben ist?
Nach dem Völkerrecht ist das entscheidende Kriterium die Intention der Täter. Man muss nachweisen können, dass eine Person oder ein Staat die Absicht hatte, eine bestimmte Gruppe von Menschen oder Teile dieser Gruppe biologisch auszulöschen. Diese Menschengruppe muss durch ethnische, rassische, religiöse oder nationale Kriterien gekennzeichnet sein. Wichtig ist, dass die Intention zum Völkermord das einzig plausible Motiv für die Gewalt sein darf.
Um den Tatbestand des Völkermords zu erfüllen, muss kein einziger Mensch gestorben sein.
Spielt die Anzahl der getöteten Menschen keine Rolle?
Nein, um den Tatbestand des Völkermords zu erfüllen, muss kein einziger Mensch gestorben sein. Es reicht, wenn zum Beispiel neben dem Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden oder dem Auferlegen tödlicher Lebensbedingungen für die Menschen der verfolgten Gruppe die Intention zum Völkermord nachweisbar ist.
Was bedeutet die juristische Definition für die Situation im Gaza-Streifen?
Aus meiner Sicht ist der Tatbestand des Völkermords nicht erfüllt, weil die Völkermordabsicht nicht das einzig plausible Motiv für die Gewalt ist. Israel begründet seine Angriffe im Gaza-Streifen mit dem Recht auf Selbstverteidigung und mit dem Ziel, die Geiseln zu befreien. Das ist im Völkerrecht erlaubt, wenn auch vielleicht in engeren Grenzen, als Israel es derzeit macht.
Es ist schon schwer, einzelnen Personen eine Völkermordabsicht nachzuweisen; für staatliches Handeln ist es noch schwerer.
Können sowohl einzelne Personen als auch Staaten des Völkermords bezichtigt werden?
Ja. Allerdings sind gerade bei Staaten die Hürden für einen Völkermordnachweis extrem hoch. Es ist schon schwer, einzelnen Personen eine Völkermordabsicht nachzuweisen; für staatliches Handeln ist es noch schwerer.
In der israelischen Regierung gibt es viele rechtsextreme Personen, die sich rassistisch vernichtend äußern; manche Aussagen kommen einer Völkermordabsicht nahe. Aber selbst bei diesen Personen gibt es ein anderes plausibles Motiv für die Gewaltausübung, nämlich die Selbstverteidigung. Es ist also sogar für diese Einzelpersonen nicht möglich zu sagen, dass Völkermord die einzige plausible Absicht für die Gewalt in Gaza ist.
Was hat es dann zu bedeuten, dass der Internationale Gerichtshof Israel Maßnahmen auferlegt hat, um einen Völkermord in Gaza zu verhindern?
Südafrika hat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof, kurz IGH, verklagt. Der Vorwurf lautet, dass Israel die Völkermordkonvention nicht einhält. Das bedeutet aber nicht, dass der IGH überzeugt ist, dass der Staat Israel einen Völkermord begeht. Neben dem Verbot, einen Völkermord zu begehen, haben Staaten nach der Völkermordkonvention auch eine Pflicht, Völkermorde zu verhindern. Auf Letztere stützt sich der IGH. Er sagt in den Anordnungen über vorläufige Maßnahmen nicht, dass er glaubt, dass ein Völkermord des Staates vorliegt. Sondern er sagt, dass es plausibel ist, dass Personen in diesen Gewaltaktionen Taten mit Völkermordabsicht begehen könnten und dass Israel die Pflicht hat, solche Taten auf seinem Staatsgebiet zu verhindern. Deswegen hat der IGH Israel beispielsweise auferlegt, humanitäre Hilfe zuzulassen.
Wann ist ein Urteil zu erwarten?
In der Sache entscheidet der IGH wahrscheinlich erst in Jahren. Die Begründung des Gerichts für die auferlegten Maßnahmen ist durchaus widersprüchlich, aber es versucht, in dieser Konfliktsituation irgendwie einen Fuß in die Tür zu bekommen, um weitere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.
Der Unterschied: Internationaler Gerichtshof und Internationaler Strafgerichtshof
Nicht nur der Internationale Gerichtshof, sondern auch der Internationale Strafgerichtshof ist tätig geworden. Er hat Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu und Verteidigungsminister Galant sowie gegen drei Hamas-Führer beantragt. Der Vorwurf lautet Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza begangen wurden. Zunächst einmal ist aber wichtig herauszustellen, dass noch keine Haftbefehle durch das Gericht erlassen wurden, sondern dass diese nur von der Anklagebehörde beantragt wurden. Das hat vor allem einen hohen Symbolwert. Es geht das Signal davon aus, dass man mit dieser israelischen Regierung nicht zusammenarbeiten kann. Man sieht bereits einen Delegitimierungseffekt: Minister Benny Gantz hat das israelische Kriegskabinett im Juni 2024 verlassen. Keiner der gemäßigten Politiker möchte mehr mit Netanjahu zusammenarbeiten. Haftbefehle oder Anträge auf Haftbefehle isolieren die betroffenen Personen oft politisch.
Es ist absolut unwahrscheinlich, dass eines der Verfahren zu Ende geführt werden kann.
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Anträge erfolgreich sind? Und was würde das in der Praxis bedeuten?
Es ist absolut unwahrscheinlich, dass eines der Verfahren zu Ende geführt werden kann. Der Internationale Strafgerichtshof, kurz IStGH, darf keine Verfahren in Abwesenheit durchführen, das heißt, der Angeklagte muss vor Gericht erscheinen, damit verhandelt werden kann. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Hamas-Führer jemals festgenommen werden oder dass Israel die betroffenen Personen aus der Regierung an den Gerichtshof überstellen wird. Zwar hätten andere IStGH-Mitgliedsstaaten die Pflicht, die von den Haftbefehlen betroffenen Personen festzunehmen und an den IStGH zu überstellen, aber Netanjahu und Galant können Auslandsreisen schlicht unterlassen, sodass andere Staaten nicht in die Verlegenheit geraten, diese Personen an den IStGH überstellen zu müssen.
Dann wären diese Personen aber zumindest stark in ihrer Reisefreiheit beschränkt.
Jein. Sie können nur nicht in die 124 Staaten reisen, die den Internationalen Strafgerichtshof tragen. Die USA und Russland zählen beispielsweise nicht dazu.
Völkermord wird in der öffentlichen Wahrnehmung oft als das schwerstmögliche Verbrechen angesehen. Juristisch betrachtet sind aber alle Kernverbrechen von gleicher Schwere.
Wie sind die Begriffe Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eigentlich juristisch betrachtet zu gewichten?
Völkermord wird in der öffentlichen Wahrnehmung oft als das schwerstmögliche Verbrechen angesehen. Juristisch betrachtet sind aber alle Kernverbrechen von gleicher Schwere. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommen häufiger vor und sind leichter nachzuweisen. Meiner Wahrnehmung nach ist der Begriff Völkermord juristisch mittlerweile zur Last geworden.
Warum?
Weil der Begriff politisch aufgeladen ist und teils für propagandistische Zwecke missbraucht wird. Oft geht es dann gar nicht mehr um die Sache. Sobald der Völkermord-Vorwurf im Raum steht, sind diplomatische Lösungen kaum noch möglich. Die Propaganda mit dem Völkermord-Begriff stachelt Gewalt oftmals sogar noch an. Die Idee des Völkerrechts ist aber, Regeln und Ruhe in den Konflikt zu bekommen, um die Zivilbevölkerung zu schützen.
Zu Beginn war der Völkermord-Begriff eine juristische Errungenschaft. Heute muss aber das Völkerrecht an anderer Stelle weiterentwickelt werden. Vor allem muss das Konfliktvölkerrecht, das an vielen Stellen veraltet ist, auf die neuen Konfliktrealitäten angepasst werden, und mit ihm das Recht der Kriegsverbrechen.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Ich hoffe zum Beispiel, dass der Internationale Strafgerichtshof sich die manipulativen Taktiken der Hamas anschauen wird. Es gibt Hinweise, dass die Hamas Zivilisten – typischerweise Frauen und Kinder – um zentrale militärische Orte gruppiert. Das kann man entweder so lesen, dass die Hamas damit die Hoffnung verbindet, ihr militärisches Gerät zu schützen. Man kann die Aktionen aber auch so deuten, dass die Hamas Bilder von Toten produzieren möchte, um die Welt gegen Israel aufzubringen. Der iranische Ayatollah Ali Chamenei hat der Hamas zu ihrer Taktik der Kriegsführung gratuliert und wie sie damit Israel delegitimiert. Diese Delegitimation wird dadurch erleichtert, dass die israelische Regierung im Lauf der vergangenen Jahre immer weiter nach rechts gerückt ist und jetzige Regierungsmitglieder rassistische Standpunkte vertreten.
Der Fokus auf Humanität gegenüber dem Gegner wird der Realität moderner Konflikte nicht mehr gerecht.
Wie könnte der Internationale Strafgerichtshof das Vorgehen der Hamas juristisch einstufen?
Eigentlich ist es eine Art Geiselnahme, ein Missbrauch der eigenen Bevölkerung als Schutzschild. Aber juristisch ist das komplex. Es ist nach internationalem Recht nicht verboten, militärische Ziele anzugreifen, auch wenn dabei Zivilisten sterben. Es muss nur eine gewisse Verhältnismäßigkeit zwischen militärischem Nutzen der Aktion und zivilem Kollateralschaden gewahrt bleiben. Die Hamas treibt die Zahl der Opfer in der eigenen Bevölkerung in die Höhe, wenn sie zum Beispiel eine Kommandozentrale unter ein Krankenhaus setzt, wohlwissend, dass Israel dennoch angreifen wird, um die Kommandozentrale außer Gefecht zu setzen. Daher spreche ich von einer Art Geiselnahme der eigenen Leute. Eine klare Verbotsregelung ist hierfür im humanitären Völkerrecht aber bislang nicht verankert. Die Regeln dort fokussieren auf den Schutz der gegnerischen Bevölkerung. Dieser Fokus auf Humanität gegenüber dem Gegner wird aber der Realität moderner Konflikte nicht mehr gerecht.
Bei all dem Leid, das die Menschen der Region durch den Nahost-Konflikt ertragen müssen, drängt sich die Frage auf, wie gut das Völkerrecht geeignet ist, um die Menschenrechte zu schützen.
Trotz des Namens ist es mit der Humanität im Humanitären Völkerrecht schnell vorbei. Es gibt vor, welche Regeln in einem bewaffneten Konflikt einzuhalten sind. Mit dem, was wir unter Menschenrechten verstehen, hat das nur bedingt etwas zu tun. Im Frieden gilt die Menschenrechtsordnung. Im Krieg wird sie weitgehend durch das Humanitäre Völkerrecht ersetzt. Wenn das passiert, ist die Menschlichkeit eigentlich schon verloren. Dann gelten nur noch humanitäre Mindestregeln für die Kriegsführung, die verhindern sollen, dass es total unmenschlich wird. Natürlich ist es gut, dass wir das Humanitäre Völkerrecht und immerhin diese Mindestregeln haben. Diese sind aber weit entfernt von einem Individualschutz, wie ihn eine Verfassungs- oder Menschenrechtsordnung in Friedenszeiten bietet.