Sport „Ich persönlich brauche keinen Medaillenspiegel“
Die Olympischen Sommerspiele in Paris haben begonnen. Schon bald werden sich die Blicke auf den Medaillenspiegel richten. Aus der Sicht des Trainingswissenschaftlers Alexander Ferrauti ist dies die falsche Orientierung.
In Deutschland besteht eine Ambivalenz zwischen überhöhten Erwartungen an Spitzenathletinnen und -athleten bei gleichzeitig unzureichender leistungssportlicher Förderung und geringer Wertschätzung von Platzierungen unterhalb der Medaillenränge. Team Deutschland wird sich bei den Olympischen Spielen trotzdem gut präsentieren und einen Top-Ten-Rang im Medaillenspiegel erreichen – davon bin ich überzeugt. Ich persönlich brauche aber keinen Medaillenspiegel. Wir sollten uns über die Leistungen und Persönlichkeiten von allen Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt freuen und die politischen Entscheidungsträger sollten sich genauer über die Ziele verständigen und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.
Körperliche Aktivität, Sport und Leistungssport auch unterhalb der Medaillenränge müssen als absolut herausragend wahrgenommen werden!
Der Leistungssport wird in Deutschland zuweilen auch kritisch diskutiert. Die Diskussion muss hinsichtlich der Vereinbarkeit mit einer kindgemäßen Entwicklung sowie aktueller Enthüllungen über mutmaßliche Dopingverstöße unbedingt geführt werden. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, welch positive Strahlkraft vom Leistungssport auch auf den freizeit- und gesundheitsorientierten Sport ausgeht. Wir brauchen langfristig ein Umdenken in der Gesellschaft: Körperliche Aktivität, Sport und Leistungssport auch unterhalb der Medaillenränge müssen nicht nur angemessen wertgeschätzt, nein sogar als absolut herausragend wahrgenommen werden! Goldmedaillen allein sind als singuläre Ereignisse per se kein statistisch valider Leistungsparameter.
Hängen die Trauben von Beginn an nicht ganz so hoch, könnte die Leistungspyramide vom Talent bis zum Hochleistungssport auf ein stabileres breitensportliches Fundament gestellt werden, sodass statistisch sogar eine höhere Leistungsspitze zu erwarten wäre. Voraussetzungen hierfür sind aber auch ein wachsendes Verständnis für die Bedeutung von Sport und körperlicher Aktivität beginnend in den Kindertagesstätten und vor allem im Schulsport und in den Sportvereinen.
Wir brauchen perspektivisch ein besseres Unterstützungssystem.
Eine veränderte Wertebildung reicht nicht aus. Wir brauchen daher perspektivisch ein besseres Unterstützungssystem für die erweiterte Leistungsspitze mit angemessener Finanzierung und Professionalisierung der Trainerinnen und Trainer und der immer bedeutsamer werdenden sportwissenschaftlichen Betreuung. Nur so kann die Motivation von Athletinnen und Athleten für einen langen mühsamen Weg in die Leistungsspitze auch in Randsportarten mit geringerem Medieninteresse erhalten bleiben.
Team Deutschland bei Olympia: ein Rückblick
Trotz dieser grundsätzlichen Erkenntnis wird die sportpolitische Frage nach einem sinnvollen Verteilungsschlüssel öffentlicher Mittel seit jeher kontrovers diskutiert. Nachdem lange Zeit einzig der olympische Erfolg finanziell belohnt wurde, richtet die Spitzensportreform den deutschen Sport seit einigen Jahren neu aus. Es ist begrüßenswert, dass nicht nur Podiumsplatzierungen, sondern sportwissenschaftlich ausgewiesene Unterstützungsleistungen und Strukturmerkmale auf dem Weg zum Podium finanziell honoriert werden. Kann man also sagen, dass Deutschland auf einem guten Weg ist? Dem ist trotz erkennbarer Strukturveränderungen leider nicht so. Was nutzt der beste Verteilungsschlüssel, wenn die im System bereitgestellten Mittel und Maßnahmen unzureichend sind, bei gleichzeitig höchsten Erwartungen?
Spitzensportförderung, Potenzialanalyse und Forschung
Ausreichend viel Geld im System, eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung, gut ausgebildete und angemessen bezahlte Trainerinnen und Trainer sowie eine zeitgemäße sportwissenschaftliche Unterstützung sind gute Voraussetzungen für sportlichen Erfolg. Bedeutsame zusätzliche Faktoren sind nationale und regionale Traditionen und dadurch ein entsprechend großer Talentpool, wie das Beispiel Tischtennis in China zeigt. Auch besondere infrastrukturelle Gegebenheiten, etwa Zugang zu Bobbahnen oder Skisprungschanzen, spielen eine Rolle sowie neben vielen weiteren Aspekten die massive private Unterstützung durch Eltern und Familie – und vor allem genügend Geduld im gesamten Betreuungssystem.
Gerade in Deutschland fehlt die Geduld.
Die Geduld fehlt gerade in Deutschland, denn der soziale Druck ist für junge Menschen recht hoch, um spätestens im Alter von 25 Jahren einen belastbaren Abschluss vorweisen zu können. Der Weg an die Spitze dauert aber vielfach über zehn Jahre. Somit sehen sich viele unterhalb der absoluten Weltspitze schon nach wenigen Investitionsjahren gegenüber Familie und Umfeld einer wachsenden Sinnfrage ausgesetzt; sie scheren über kurz oder lang aus dem Leistungssportsystem aus. Wir erleben eine hohe Drop-out Quote zahlreicher Talente beim Übergang vom Nachwuchs- ins Aktivenalter. Das US-amerikanische Hochschulsportsystem bietet hierzu eine attraktive Alternative.
Duale Karriere im internationalen Vergleich
Zurück zum Ausgangspunkt: Team Deutschland wird sich mit faszinierenden Athletinnen und Athleten bei den Olympischen Spielen in Paris trotz der teilweise schlechteren Rahmenbedingungen gut präsentieren. Das Team besticht gegenüber anderen Nationen vor allem durch das breite abgebildete Spektrum an Sportarten und besitzt traditionell in Sportarten mit vielen Teildisziplinen wie Judo, Ringen oder Bahnradsport gute Medaillenchancen. Ich freue mich schon jetzt auf jede Medaille und Finalteilnahme, aber auch über jede individuelle Bestleistung. Gleichzeitig bewundere ich die Leistungen und Persönlichkeiten von allen Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt und ignoriere dabei den Medaillenspiegel.