Serie Standpunkt
Prof. Dr. Oliver W. Lembcke lehrt an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität. © RUB, Kramer

Politikwissenschaft „Eine Zeitenwende ist dringender denn je nötig“

Was bedeutet das US-Wahlergebnis für die USA, Europa und Deutschland? Was ist von der nächsten Amtszeit Trumps zu erwarten? Eine Einordnung von RUB-Politikwissenschaftler Prof. Dr. Oliver W. Lembcke.

Die „red wave“ wurde bereits bei den letzten Zwischenwahlen erwartet. Nun traf sie ein und bescherte Donald Trump erneut den Einzug ins Weiße Haus sowie Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses. Diese „unified government“ ermöglicht ihm, seine Politikvorstellungen weitgehend ungehindert durchzusetzen. Eine Machtfülle, die derzeit viele Menschen in den USA umtreibt. Was ist von diesem Präsidenten zu erwarten, der seine Niederlage gegen Joe Biden nie akzeptieren konnte? Wir erinnern uns an Trumps Kampagne gegen die „gestohlene Wahl“, die seine Anhängerschaft so in Rage versetzte, dass diese das Kapitol am 6. Januar 2021 stürmten.

Die Spielregeln der Verfassung sind robust.

Zweifellos strotzt Trump derzeit vor Macht. Aber die Spielregeln der Verfassung sind robust. Zunächst einmal hat er nur noch eine Amtszeit; eine weitere Wiederwahl ist ausgeschlossen. Ferner verändern Zwischenwahlen nach der Amtsübernahme typischerweise die Mehrheitsverhältnisse im Kongress zum Nachteil des Präsidenten. Angesichts seiner kurzen Restlaufzeit könnte Trump schnell zu einer „lame duck“ werden. Und schließlich haben die zahlreichen „checks and balances“ in der föderativen Verfassungsordnung der USA ein Durchregieren bereits während der ersten Amtszeit verhindert. 

Dagegen hilft die Widerständigkeit der Zivilgesellschaft und eine regenerierte politische Opposition.

Denkbar ist jedoch ein „constitutional rot“, ein Verfall/eine Verrottung der Verfassung, wie es der amerikanische Rechtswissenschaftler Jack Balkin bezeichnet, also eine gewollte Dysfunktionalität der rechtsstaatlichen Demokratie, etwa durch die Nichtbesetzung von Schlüsselpositionen. Dagegen hilft Widerständigkeit der Zivilgesellschaft und – natürlich – eine regenerierte politische Opposition. Die deutliche Wahlniederlage von Kamala Harris sollte für die Partei der Demokraten hinreichend Anlass sein, sich gründlich mit dem eigenen Misserfolg auseinanderzusetzen, um alsbald wieder konkurrenzfähig zu werden.

Deutschland droht unter Druck zu geraten.

Auch für Europa und für Deutschland bedeutet Trumps Wahlsieg eine Stunde der Wahrheit: Ist man nach den gemachten Erfahrungen hinreichend vorbereitet? Die asymmetrische Lastenverteilung innerhalb der NATO wird wieder aktuell. Ebenso die Militärhilfe für die Ukraine. Können und wollen die Europäer den Rückzug der USA kompensieren? Auch beim Thema Einfuhrzölle drohen Konflikte. Zugleich lassen sich hier die Grenzen der Make-America-Great-Again-Politik aufzeigen: Als Folge des Protektionismus wird der Preis- und Inflationsdruck in den USA absehbar Unzufriedenheit im eigenen Land schüren. Auf mögliche Kurskorrekturen der US-Regierung zu hoffen, wäre jedoch zu wenig – vor allem für Deutschland, das in besonderer Weise durch den Politikwechsel in Washington unter Druck zu geraten droht. Eine Zeitenwende ist dringender denn je nötig.

Veröffentlicht

Montag
11. November 2024
12:31 Uhr

Von

Prof. Dr. Oliver W. Lembcke

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