Kristin Platt leitet an der Ruhr-Universität das Institut für Diaspora- und Genozidforschung. © RUB, Kramer

Interview Antisemitismus in der akademischen Welt

Kristin Platt forscht zur Geschichte des Antisemitismus. Aber auch Diskriminierung in der modernen akademischen Welt treibt sie um. Sie hat darauf mit verschiedenen Projekten reagiert.

Nationalsozialismus – ein uraltes Thema? Mitnichten, meint Privatdozentin Dr. Kristin Platt. Sie ist Leiterin des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung (IDG) der Ruhr-Universität Bochum und blickt mit Sorge auf den Antisemitismus in der akademischen Welt.

Frau Dr. Platt, Sie forschen unter anderem zum Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Hat er seit dem Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts einen neuen Höhepunkt erreicht?
Die Zahlen, die uns zu antisemitischen Äußerungen und Schmierereien bis hin zu körperlichen Übergriffen vorliegen, sagen das eindeutig.

In der akademischen Welt stellen wir fest, dass das Jüdische als Jüdisches erkennbar gemacht wird, so wie in den 1950er-Jahren, als der Antisemitismus an den Hochschulen besonders virulent war. Wir laufen möglicherweise in die Einbahnstraße hinein, Antisemitismus als etwas zu sehen, was eine Reaktion auf jüdische Gegenwart ist. Damit hat es aber nichts zu tun. Es ist eine Weltanschauung, Menschen zu kategorisieren und als typisch jüdisch zu bezeichnen. Das ist eigentlich Antisemitismus. Nicht das antiisraelische Bild oder die Kritik an Israel.

Jüdische Forschung im Abseits

Kristin Platt forscht unter anderem im historischen Kontext zum Antisemitismus in der Wissenschaft und an Universitäten. Sie zeigt auf, dass viele Arbeiten von jüdischen Forscherinnen und Forschern in einer Art Parallelwelt existieren. „Im Moment gibt es einen Forschungshype um Zeitverständnis und Zeitbewusstsein“, sagt sie. „In den 1910er- und 1920er-Jahren hat eine große Gruppe jüdischer Forscher dazu gearbeitet. Aber diese Arbeiten gibt es im deutschen Kontext nicht.“ Auf großen Tagungen versucht man zwar, sie zu reintegrieren. „Aber das gelingt nicht“, so Platt. „Die Arbeiten bleiben außerhalb, es findet keine Diskussion dazu statt. Das ist sehr eigentümlich.“

Wobei die Frage, ob man Kritik an Israel üben darf, zu einer Schlüsselfrage im Forschungsalltag geworden ist. Das allerdings schon seit der Documenta 2022, wo über antisemitische Gemälde diskutiert wurde.

Wie betrifft das den Forschungsalltag in Deutschland?
Die Frage, ob Kritik an Israel erlaubt ist, ist zu einer Positionsfrage im Kultur- und Wissenschaftsbereich geworden. Nicht so stark wie an US-amerikanischen Universitäten. Aber es geht so weit, dass man bei Tagungseinladungen schaut, wie eine Person zu der Frage steht und dann entscheidet, ob sie eingeladen wird. Kooperationen sind daran zerbrochen, Freundschaften auch.

Das behindert vermutlich auch den akademischen Diskurs.
Es hindert schon. Vor allem aber hindert die Sorge, eine Kampagne in den Sozialen Medien gegen sich heraufzubeschwören, wenn man sich wissenschaftlich zum Beispiel damit auseinandersetzen möchte, ob in Gaza ein Genozid stattfindet oder nicht.

Es geht nur um die Frage, ob wir Kritik an Israel üben dürfen, oder darum, was passiert ist, wenn man Kritik geübt hat und dafür kritisiert wird.

Wir reden auch gar nicht über die Entstehung von Antisemitismus, die Oppositionsbewegung in Israel oder wie sich die Hamas in den Medien darstellt. Es geht nur um die Frage, ob wir Kritik an Israel üben dürfen, oder darum, was passiert ist, wenn man Kritik geübt hat und dafür kritisiert wird. Wir reden also über das Reden über. Auf dieser Ebene bleibt es. Das ist eine verschobene wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Wie kann man die Situation auflösen?
Das ist schwierig. Weil die Frage, ob man Kritik an Israel üben darf, keine Frage der Forschung, sondern der gesellschaftlichen Einbindung ist. Die Lösung des Nahost-Konflikts ist nicht die Lösung dieser Diskussion.

Wir haben hier an der Universität die Aufgabe, uns davon nicht unterkriegen zu lassen.

Was Meinungsfreiheit bedeutet, ist eine Frage, die uns im akademischen Alltag sehr umtreibt. Es gibt beispielsweise Studierende, die in unseren Seminaren versuchen, rechtes Gedankengut zu verbreiten. Als Dozentin muss man da schnell schalten und angemessen reagieren. Das ist herausfordernd. Wir haben hier an der Universität die Aufgabe, uns davon nicht unterkriegen zu lassen, sondern zu zeigen, dass das Themen sind, an denen wir mit unseren Studierenden gesellschaftlich arbeiten können.

Wie können insbesondere Bildungseinrichtungen dazu beitragen, Antisemitismus effektiv zu bekämpfen?
Wir haben neue Plattformen geschaffen, damit Lehrende sich austauschen können und Hilfe für solche Situationen an die Hand bekommen.

Angebot für Lehrende

„Teach and Talk“: In Zusammenarbeit mit der Antidiskriminierungsbeauftragten der Ruhr-Universität Bochum hat das Institut für Diaspora- und Genozidforschung ein Austausch- und Beratungsangebot entwickelt, in dem Dozentinnen und Dozenten Rat zu schwierigen Situationen in Lehrveranstaltungen finden können. Der nächste Workshop findet am 2. Mai 2024 statt. Lehrende werden per E-Mail dazu eingeladen.

Ich denke, dass das Thema Antisemitismus an deutschen Unis aber institutionell besser verankert sein müsste. In Bochum ist das mit dem Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Fall. Aber es gibt bundesweit nicht einen einzigen Lehrstuhl, der der Erforschung des Nationalsozialismus gewidmet ist. Lange hieß es, dass man bei dem Thema bereits dreimal jeden Stein umgedreht habe, dass das Thema uralt sei. Das ist es aber nicht.

In Bochum haben Sie auch ein spezielles Zertifikatsstudium ins Leben gerufen.
Seit zwei Jahren gibt es das Zertifikatsstudium „Collective Violence. Holocaust and Genocide Studies“, das fakultätsübergreifend studiert werden kann. Wir bieten auch Lehrveranstaltungen zu Antisemitismus an. Die ersten 22 Absolvent*innen haben das Zertifikat bereits erworben.

Ich finde das sehr wertvoll, weil diese Generation zum ersten Mal wissenschaftlich zu diesen Themen arbeiten wird. Das ist eine große Chance.

Das Besondere ist, dass wir in NRW keine Studierenden mit blanken Biografien haben, sondern Familienbiografien, die sie in unseren Seminaren aufarbeiten. Nicht nur jüdische oder palästinensische Biografien, die Studierenden bringen auch kurdische, kosovo-albanische, tamilische oder andere Hintergründe mit. Fragen von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung werden von der Generation, die hier studiert, ganz neu betrachtet. Ich finde das sehr wertvoll, weil diese Generation zum ersten Mal wissenschaftlich zu diesen Themen arbeiten wird. Das ist eine große Chance.

Mehr Weiterbildungsangebote in Arbeit
  • Im Rahmen eines Verbundprojekts zwischen der Ruhr-Universität Bochum und der FernUniversität Hagen ist der Weiterbildungsstudiengang „Gewalt in Kultur und Gesellschaft“ entwickelt worden, der ab dem Herbst 2024 studierbar sein wird. Er bietet Fortbildungen zu den Themen Antisemitismus, Rassismus, politische und interkulturelle Konflikte an. Neben dem Masterabschluss wird der Erwerb von Weiterbildungszertifikaten für einzelne Weiterbildungsangebote möglich sein.
  • Basierend auf einer NRW-weiten Umfrage im Winter 2023/24 entwickelt das IDG derzeit ein Beratungsangebot zu den Themen Antisemitismus und Rechtspopulismus für (und gemeinsam mit) Schulen sowie ein Konzept für ein Weiterbildungsangebot für Hochschulen und Universitäten. Das Projekt wird gefördert vom NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft.

Veröffentlicht

Mittwoch
24. April 2024
10:43 Uhr

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