Moralphilosophie Darf man angesichts des Klimawandels noch in den Urlaub fliegen?
Ja und nein, sagt die Moralphilosophie. Individuelle Maßnahmen allein können den Klimawandel nicht aufhalten. Wir sind daher verpflichtet, uns als Kollektiv einzumischen.
Abgesehen von einigen unbelehrbaren Leugnern hat inzwischen wohl jeder verstanden, dass die Menschheit den Klimawandel verursacht. Seit 1992 wird auf internationaler Ebene über die Erderwärmung und ihre Folgen geredet, und trotz vieler Anstrengungen gelingt es bisher nicht, diese Entwicklung aufzuhalten. Sie ist bedrohlich. „Der Klimawandel ist die größte Herausforderung, vor der die Menschheit je stand, und es gibt keine Möglichkeit, die Bedrohung in letzter Sekunde abzuwenden, wie zum Beispiel bei diplomatischen Krisen“, macht Dr. Anna Luisa Lippold deutlich.
Sie hat sich in ihrer Dissertation im Arbeitsbereich Angewandte Ethik bei Prof. Dr. Klaus Steigleder mit einer Frage befasst, die viele umtreibt: Welche individuellen moralischen Pflichten haben wir angesichts des Klimawandels? Anders ausgedrückt: Darf man noch in den Urlaub fliegen? Fleisch essen? Milch im Kaffee trinken?
Das Problem ist viel größer.
Anna Luisa Lippold
„Ja und nein“, sagt Anna Luisa Lippold. Sie sieht das starke Narrativ, dass jede und jeder ihren und seinen Teil dazu beitragen müsse, den CO2-Ausstoß zu senken, indem man weniger Auto fährt, Strom spart, sich vegan ernährt. Aber selbst wenn alle Menschen weltweit diese Maßnahmen umsetzen würden, könnte man so den Klimawandel nicht stoppen.
„Das Problem ist viel größer“, sagt die Philosophin. „Durchschnittlich verursachen wir in Deutschland zurzeit etwa neun Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr. Wir müssten unseren Fußabdruck auf 1,2 Tonnen reduzieren, um den Klimawandel auf 1,5 Grad zu begrenzen – das ist für jeden allein unmöglich zu schaffen. Wir müssen die Art, wie wir leben, neu denken. Da wir unseren Lebenswandel nicht zurück in die Steinzeit drehen können, geht es auf keinen Fall ohne massive technische Neuerungen oder das Engagement der wirtschaftlichen Akteure. Nur kollektives Handeln kann den notwendigen Wandel bewirken.“
Einen pragmatischen Weg aufzeigen
In ihrer Arbeit ging es ihr darum, einen pragmatischen Weg aufzuzeigen, der frei von Ideologien prüft, was und in welchem Zeitrahmen aus welchen rationalen Gründen zu tun ist, um den Klimawandel zu begrenzen. Das gängige Narrativ, dass jeder Einzelne seine Emissionen herunterschrauben müsse, stellt sie infrage: Da der Beitrag jedes einzelnen den Klimawandel weder verursacht, noch ihn aufhält, sieht sie die moralische Pflicht nicht in erster Linie und vor allem nicht ausschließlich in der Verringerung des CO2-Ausstoßes des Individuums. „So betrachtet darf man mit dem Flugzeug in den Urlaub reisen“, sagt sie. Aber ganz so einfach kann man es sich nicht machen.
Einer der Gründe ist, dass es eine moralische Pflicht gibt, die Rechte zukünftiger Generationen zu wahren. „Kinder werden nicht gefragt, ob sie geboren werden wollen. Es sind deshalb die Eltern, die Vorsorge für das Leben der Kinder treffen müssen“, verdeutlicht Lippold. Die Haltung „nach mir die Sintflut“ kommt nicht infrage: „Moral ist keine Meinung“, bringt sie es auf den Punkt.
Aber was nun unternehmen gegen den Klimawandel, wenn die Veränderung des eigenen Konsumverhaltens nicht ausreicht? Sind wir dann nicht hilf- und machtlos?
Moralisch zur Einmischung verpflichtet
Sind wir nicht, meint die Forscherin. Sie verficht die individuelle Pflicht, das kollektive Handeln voranzubringen. Zum kollektiven Handeln gehören zum einen die politischen Akteure. Zum anderen aber auch wir als Gesellschaft. Es geht darum, die Synergieeffekte zwischen Politik und Gesellschaft zu nutzen und Handlungsbereitschaft auf allen Seiten zu bewerben. „Demonstrationen organisieren oder daran teilnehmen, seinen politischen Vertreter anschreiben, Politiker nicht an der Wahlurne für klimaschützende Maßnahmen abstrafen und vor allem sein soziales Umfeld sensibilisieren und alles in allem für ein gesellschaftliches Klima sorgen, in dem ambitionierter Klimaschutz über parteiliche Grenzen hinweg möglich ist, das liegt in der Macht eines jeden“, sagt sie.
Es geht darum, dass wir uns einmischen und als Gesellschaft Rückhalt bieten. Andernfalls wird Klimaschutz dort aufhören, wo politischer Machterhalt anfängt. So gut wie niemand sei von dieser moralischen Verpflichtung zur Einmischung frei, legt sie dar, und begründet das mit der Zugehörigkeit der Menschen zu sogenannten schwachen Kollektiven, die moralisch zum Handeln verpflichtet sind. Das Modell geht auf die Philosophin Elizabeth Cripps zurück: Da gibt es die Young, Menschen bis ungefähr 40, die ihre moralischen Rechte nur miteinander schützen können. Zu dieser Gruppe gehören auch junge Eltern. Die Able, also alle, die zum Beispiel aufgrund ihrer Bildung und ihres Einkommens die Möglichkeit haben, irgendetwas zu unternehmen. Und die Polluters, die alle umfassen, die gemeinsam den Klimawandel verursachen. Zu mindestens einer dieser Gruppen gehören fast alle Menschen, viele gleich zu mehreren.
Kinder zu Klimaschützern erziehen
Die Young seien beispielsweise dazu verpflichtet, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie, sobald sie selbst erwachsen sind, in der Lage sind, ihren Teil zum Klimaschutz beizutragen. Die Able können zum Beispiel die Forschung unterstützen oder sich politisch engagieren. Polluter sind alle, die über einem normativ relevanten Grenzwert emittieren, bei dem, wenn wir alle nur so viel emittieren würden, es keinen Klimawandel gäbe. „Ich glaube, dass wir als Menschheit es schaffen können, den Klimawandel abzuwenden, wenn wir alle an einem Strang ziehen“, sagt Anna Luisa Lippold.
Wenn man sich nun aber seiner Pflicht zur Einmischung bewusst ist und sie wahrnimmt, macht man sich dann nicht unglaubwürdig, wenn man den dicken SUV fährt und Fernreisen bucht? „Ja, man sollte nicht Wasser predigen und Wein trinken. Deswegen sehe ich – wenn auch eindeutig nachgelagert – auch die Pflicht, sich selbst zu beschränken“, so Anna Luisa Lippold. Wer aufs Fliegen verzichtet, kann nicht davon ausgehen, alles moralisch Notwendige getan zu haben. Wer es aber ernst nimmt mit dem Klimaschutz, sollte dann doch nicht in den Urlaub fliegen.