Das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Verkehrsarten funktioniert im Ruhrgebiet noch nicht reibungslos. © Damian Gorczany

Standpunkt Nachhaltige Mobilität im Ruhrgebiet braucht Management von Komplexität

Eine gemeinsame Vision, Experimentierfreude und Lernwillen aller Akteure sind nötig. Die Wissenschaft kann dabei helfen.

Die effiziente und nachhaltige Mobilität von Menschen und Gütern ist ein wesentliches Kriterium für Lebensqualität und Wirtschaftskraft. Seit Jahrzehnten wird dies auch als große Herausforderung für das Ruhrgebiet diskutiert. Einiges ist in Bewegung gekommen, aber kaum jemand würde behaupten, dass die wesentlichen Probleme schon gelöst wären. Verkehrsstaus allerorten, die A40 weiterhin als Nadelöhr im Transport zwischen West und Ost, nur wenig aufeinander abgestimmte Taktungen des ÖPNV und immer noch unzureichende Schnittstellen für verschiedene Verkehrsarten.

Eine polyzentrische Region

Das Ruhrgebiet kann viel lernen von Großregionen wie Kopenhagen oder Wien. Aber es gibt auch Besonderheiten, die das Übertragen anderer Erfahrungen und die Entwicklung integrierter Konzepte erschweren. Im Gegensatz zu den meisten Ballungsräumen ist das Ruhrgebiet eine polyzentrische Region. Historisch ist sie eher anarchisch um große montanindustrielle Konglomerate herum gewachsen – Zechen, Hochöfen, Stahlwerke, schwerindustrielle Produktion sowie vor- und nachgelagerte chemische und sonstige Industrien. Die Vernetzungen und Machtbeziehungen innerhalb sowie zwischen Stadt- und Regierungsbezirksverwaltungen, Großunternehmen und regionalen Verbänden waren so komplex wie die noch heute erkennbaren früheren Wasser-, Eisenbahn- und Rohrleitungsverbindungen. Eine effiziente Mobilität von Zechen- und Stahlarbeitern zwischen den Produktionsstandorten war weder erforderlich noch gewollt.

Ludger Pries ist Inhaber des Lehrstuhls Soziologie/Organisation, Migration, Mitbestimmung der RUB. © Damian Gorczany

Alle Bemühungen um Koordination der Mobilitätsaktivitäten in dieser Großregion fanden im Spannungsverhältnis von Konkurrenz und Kooperation statt. Der nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Siedlungsverband Ruhrgebiet orientierte sich an den Erfahrungen von Großregionen wie Berlin. Im Ruhrgebiet aber hatte keine der beteiligten Akteursgruppen die Macht und Autorität, als regulierendes Zentrum zu wirken. Dies gilt – allen Anstrengungen des heutigen Regionalverbandes Ruhrgebiet und anderer regionaler Akteure zum Trotz – bis heute. Klassische Konzepte von Planung und Steuerung können im Ruhrgebiet noch weniger fruchten als anderswo. Allerdings geraten klassische Planungs- und Steuerungsansätze auch anderswo unter Druck, da sowohl praktische Erfahrungen als auch Erkenntnisse aus der Komplexitätsforschung die Steuerbarkeit komplexer Systeme infrage stellen.

Was die Wissenschaft beitragen kann

Bei der Suche nach Antworten auf die Herausforderungen integrierter und nachhaltiger Mobilität im Ruhrgebiet können die Wissenschaften einen wichtigen Beitrag leisten. Die Geo- und Ingenieurwissenschaften entwickeln vor allem technische Lösungsansätze. In interdisziplinärer Perspektive können die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften dazu beitragen, die Erwartungen und Präferenzen der Menschen sowie die Macht- und Gestaltungsspielräume kollektiver Akteure in Lösungsansätzen einzubeziehen. Dazu zählt auch die Analyse politischer und gesellschaftlicher Diskurse, die entscheidend prägen, was für machbar und wünschenswert gehalten wird. Neuere Ansätze der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften lenken zum Beispiel den Blick von klassischen Planungs- und Steuerungslogiken hin zum Management und zur Governance von Komplexität in Zeiten der „Risikogesellschaft“ und „reflexiver Modernisierung“. Beide Begriffe hatte der Soziologe Ulrich Beck vorgeschlagen um zu verdeutlichen, dass die Risiken und Herausforderungen, vor denen die Menschen heute stehen – wie Klimawandel, Pandemien oder Bevölkerungsentwicklungen – vom Menschen selbst (mit) erzeugt worden sind. Die moderne Organisationsforschung kann zeigen, dass die Prinzipien von Dezentralisierung und gleichzeitig starker Koordination etwa in transnationalen Unternehmensnetzwerken oder agilen Organisationen kein Widerspruch und kein Nullsummenspiel sein müssen. Ohne solche Erkenntnisse der aktuellen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wird die Entwicklung nachhaltiger Mobilitätskonzepte im Ruhrgebiet kaum erfolgreich sein.

Michael Roos leitet an der Ruhr-Universität den Lehrstuhl für Makroökonomik. © Damian Gorczany

Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse unserer Studie zu lesen, die in der zweiten Jahreshälfte 2019 als Kooperation der Sozialwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum mit Förderung durch die Emschergenossenschaft als Pilotprojekt durchgeführt wurde. Konkret haben wir Studierende und Beschäftigte der RUB zu gegenwärtigen Mobilitätsgewohnheiten und zukünftigen Mobilitätserwartungen befragt, in einer Fallstudie Lösungsmöglichkeiten für die technische und organisatorische Weiterentwicklung von innerbetrieblicher Mobilität der Mitarbeitenden entwickelt und durch systematische Recherchen und Interviews nationale und internationale Erfahrungen im Hinblick auf die Entwicklung integrierter Verkehrssysteme zusammengefasst.

Experimentieren und lernen

Neben einer gemeinsamen Vision bedarf es vor allem der Entwicklung netzwerkförmiger Koordination und starker Kooperation unterschiedlichster Akteursgruppen wie Staat, Unternehmen, Genossenschaften, Universitäten, Stiftungen im Sinne einer Governance der Komplexität. Für deren nachhaltige Entwicklung und Wirksamkeit sollten die bestehenden dominanten Koordinationsmechanismen, Erwartungen und Vorschläge der beteiligten kollektiven und korporativen Akteure sowie wesentliche Entwicklungshindernisse für nachhaltige Mobilität identifiziert und Prinzipien des Managements von Komplexität gewonnen werden.

Zwei wichtige Prinzipien des Komplexitätsmanagements sind die Experimentier- und die Lernbereitschaft. Die Effekte von Interventionen in komplexen Systemen sind oft nicht plan- und vorhersagbar. Daher müssen die Akteure mit neuen Ideen experimentieren und aus den positiven und negativen Erfahrungen lernen, wofür die Wissenschaft einen wichtigen Beitrag leisten kann.

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Veröffentlicht

Dienstag
29. Juni 2021
13:22 Uhr

Von

Ludger Pries
Michael Roos

Dieser Artikel ist am 2. November 2020 in Rubin 2/2020 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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