Interview An den großen Fragen abarbeiten
Christian Frevel befasst sich in seinem Forschungsalltag mit Fragen des Alten Testaments und stößt dabei täglich auf neue Rätsel.
Prof. Dr. Christian Frevel ist Professor für Altes Testament an der RUB.
Was meinen Forschungsalltag prägt:
Fragen über Fragen. Ich bin immer wieder erstaunt, dass mir auch die selbstverständlichsten Dinge nicht wirklich selbstverständlich sind. Ich beginne meinen Tag mit der Idee, an einer bestimmten Forschungsfrage weiterzuarbeiten und hänge nach kurzer Zeit an einem anscheinend selbstverständlichen Detail, das mich reizt, herausfordert, nicht ruhen lässt. Am Ende merke ich, dass darin eine weitere „große“ Frage in meinem Feld gelegen hat. So hat zum Beispiel die kleine Frage, warum der Prophet Bileam und König Balak bei der Einholung eines Orakels auf sieben Altären Opfer darbringen, zu der großen Frage geführt, was denn eigentlich ein „Opfer“ in den antiken Religionen ist. Dazu rege ich jetzt eine Forschergruppe an, die sich mit Logiken des Opfers beschäftigten wird.
Wozu das gut ist:
Ich selbst sehe fast immer klar, wozu das gut ist und in welche Diskurse der Gegenwart mein eigenes Fragen eingebunden ist. Aber meist ist dieser Bezug nicht direkt, nicht unmittelbar und nicht offensichtlich. Für Außenstehende kann ich oft erst nach langen Erklärungsbögen verständlich machen, dass ich mich mit meinem Forschen an „großen Fragen“ abarbeite. Beispielsweise ist die Frage nach einem Gelübde für Laien – Männer und Frauen –, das in dem biblischen Buch Numeri beschrieben wird, eng verwoben mit weiteren Fragen: Was ist eigentlich „heilig“? Welche Macht wurde Priestern im fünften und vierten Jahrhundert vor Christus zugeschrieben? Wie wurde diese Macht legitimiert? Eine Frage, die zu gegenwärtigen Diskursen um Partizipation und Autorität in der Kirche einen unerwartet aktuellen Bezug hat.
Das für mich ärgerlichste Vorurteil über Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler ...
… ist, ob es nicht wirklich wichtige Fragen gäbe, denen sie sich widmen könnten. Und dass das, was sie Forschen nennen, keine Wissenschaft, sondern bedeutungslose Glasperlenspiele seien. Und dass man ja auch immer alles anders sehen könne. Und ganz persönlich: „Was kann man denn am Alten Testament noch erforschen?“ Da gibt es mehr als genug! Wäre alles so klar, wäre mein Wissenschaftlerleben vielleicht entspannter.
Momentan beschäftigen mich drei Fragen besonders:
- 1. Wann hat sich die Verehrung der Gottheit YHWH in Juda und Israel im ersten Jahrtausend durchsetzen können und welche Rolle hat dabei das Königtum gespielt? Durch neuere historische Untersuchungen ist diese Frage wieder ganz offen und ich habe die traditionelle Sicht dazu einmal mit guten Gründen auf den Kopf gestellt.
- 2. Gibt es in der Religion Israels einen Zug zum Individuum, der sich ab dem sechsten Jahrhundert vor Christus in zunehmender Selbstreflexion und Innerlichkeit nachweisen lässt und der das Denken über das Denken und die Reflexion der Moralität bestimmt? Die bisherige Forschung hat das immer wieder verneint, aber viele Metaphern in den Psalmen zeigen mir etwas anderes.
- 3. Wie lange wurde an der Tora noch durch Anpassung und Fortschreibung gearbeitet, bis die Kommentierung nur noch außerhalb erfolgte? Was in der älteren Forschung feststand, ist heute wieder offen. Ich arbeite an einem Modell der Verdichtung literarischer Bezüge, in denen die Tora zu ihrem Abschluss nicht von außen, sondern von innen heraus findet. Dieses Modell entwickele ich am Buch Numeri, einem Stiefkind der alttestamentlichen Forschung.
In 15 Jahren werden die Geisteswissenschaften ...
… noch weniger sichtbar, aber hoffentlich wichtiger sein als heute, sodass man solche Fragen nicht mehr stellen muss.