Evangelische Theologie „Die biblischen Texte sind nicht vom Himmel gefallen“
Die antiken Sprachen sind Walter Bührers Steckenpferd. Sie eröffnen dem Theologen einen Zugang zu den unterschiedlichen Textfassungen des Alten Testaments.
Akkadisch, Aramäisch, Hebräisch, Griechisch, Latein: Die Faszination für diese Sprachen entdeckte Walter Bührer während seines Studiums der Theologie, Assyriologie und Semitistik in Heidelberg und Zürich. „Die Sprachen waren im Theologiestudium mein Steckenpferd“, so Bührer. Schnell habe er sich für die semitischen Sprachen, die Sprachen des Zweistromlandes und damit die Kulturen im Umfeld des Alten Testaments interessiert. Und so fand er auch seinen Weg zur Theologie und Theologiegeschichte des Alten Testaments. In Heidelberg promovierte und habilitierte Bührer zu den sogenannten Fünf Büchern Moses. 2015 folgte der Wechsel an die Ruhr-Universität. Seit November hat er hier die Professur für Theologie des Alten Testaments inne.
Wir müssen uns die Texte hart erarbeiten.
„Den Zugang zu den Originalfassungen und zu den Bedeutungen, die man ihnen bis heute zuspricht, kann man sich nur über die Sprachen verschaffen“, ist Walter Bührer überzeugt. „Die Texte des Alten Testaments sind nicht für uns geschrieben worden, sie sind in einem ganz anderen Kontext entstanden, in einer ganz anderen Sprache geschrieben. Die müssen wir uns wirklich hart erarbeiten.“ Dass sich das lohnt, zeigt seine Forschung zur Entstehungsgeschichte der Fünf Bücher Moses.
Die Fünf Bücher Moses
„Die Texte des Alten Testaments sind nicht vom Himmel gefallen. Wenn wir von den Fünf Büchern Moses, der Thora, reden, dann ist das ja immer so eine Zuschreibung an eine Gestalt. Und wir gehen natürlich nicht davon aus, dass einer alle Bücher geschrieben hat“, so Bührer. In seiner Dissertation und Habilitationsschrift rekonstruiert der Theologe ihre Entstehungszeit: „Manche dieser Texte stammen aus dem achten Jahrhundert vor Christus, also aus einer Zeit, wo es in Jerusalem einen Tempel gegeben hat. Andere nehmen Bezug darauf, dass dieser Tempel von den Babyloniern zerstört wurde. Wieder andere sprechen vom Wiederaufbau des Tempels.“ Auch die unterschiedlichen Intentionen der vielen Autoren und Schriftgelehrten hat der Theologe herausgearbeitet. „Hier wird um Diskurse, um Macht und Deutungshoheit gerungen.“
Ein komplexes Unterfangen
In den nächsten Jahren wird sich der neu ernannte Professor mit einem weiteren alttestamentlichen Text, dem Buch Hiob und dessen Theologiegeschichte auseinandersetzen und einen wissenschaftlichen Kommentar dazu verfassen. Ein Unterfangen, das es in sich hat, denn: „Das Hiob-Buch zählt 42 Kapitel und ist unsäglich komplex. Der letzte Kommentar, der auf Deutsch dazu erschienen ist, hatte eine Bearbeitungszeit von über 20 Jahren“, weiß Bührer.
Das Hiob-Buch selbst ist über Jahrhunderte entstanden.
Ein Buch, Viele Fassungen
Ein Buch, Viele Fassungen
Die zentrale Frage dieses Buches lautet: Warum lässt ein guter Gott Leid auf der Welt zu? Diese Frage nach dem Sinn und Unsinn von Leid hat Generationen beschäftigt und ist aktueller denn je. Im Buch Hiob überlegen Freunde, wie Hiob mit seinem Leid umgehen und das Leid deuten könne. Die Texte setzen sich dabei akribisch mit anderen Bibelstellen auseinander, führen andere Texte des Alten Testaments an. So raten die Freunde Hiob, sich zu überlegen, wie er Gott verstoßen haben könnte, um dann seinen Frieden mit Gott schließen zu können. Hiob zitiert wiederum aus anderen Texten, um ihnen zu widersprechen.
Hinter den Texten stecken großartige Theologen.
„Hinter diesen Texten stecken großartige Theologen“, weiß Bührer. „Hier treffen ganz unterschiedliche Gottesbilder aufeinander und werden diskutiert. Diese Kreativität, mit der mit anderen Bibelstellen umgegangen wird, diese Lebensnähe – das finde ich spannend. Jede Generation von Schriftgelehrten hat die Texte anders rezipiert, einfach auch aufgrund der Herausforderungen der jeweiligen Zeit“, fasst er zusammen.
Die Texte sind offener und reflektierter als wir meinen.
Was ihn am Buch Hiob und den Fünf Büchern Moses so begeistert, gelte für das gesamte Alte Testament. „Die Art und Weise, wie dort mit biblischen Texten umgegangen wird, ist in der Regel überhaupt nicht dogmatisch, engstirnig, fundamentalistisch oder ethisch rigide. Die Texte sind offener und reflektierter, als wir meinen.“ Und die Fragen, die dort behandelt werden, verlören nie an Aktualität. Viele seien anthropologischer Natur: Was ist der Mensch? Wie verhält es sich auf Erden? Wie verhalten sich die Menschen untereinander?
„Die Antworten lassen sich natürlich nicht eins zu eins auf uns heute übertragen. Es ist immer gut, wenn wir sie sozusagen als fremde Texte wahrnehmen, uns ihrer Geschichtlichkeit bewusst werden. Wir leben heute in einer völlig anderen Gesellschaft. Und dennoch können Gedanken und Argumentationsweisen unsere eigene Diskussion befruchten und inspirieren“, so Bührer.
Gesellschaftlich gesehen tut es Not, eine Sprachfähigkeit und hohe Reflexionsfähigkeit einzuüben.
Darum ist es dem evangelischen Theologen auch ein besonderes Anliegen, das Wissen um die Theologie und die Theologieschichte des Alten Testaments an seine Studierenden weiterzugeben. „Wir bilden hier an der Fakultät die Pfarrer*innen und Lehrkräfte von morgen aus. Gesellschaftlich gesehen tut es einfach Not, eine Sprachfähigkeit, eine hohe Reflexionsfähigkeit, kritisches Denken einzuüben, damit sie das dann in die Gemeinden und in die Schulen weitertragen können – auch um unreflektierten Strömungen kritisch entgegentreten zu können.“